piwik no script img

ex und pop (19): weltbierbäuche

von DIETRICH ZUR NEDDEN

Niemand kommt hier lebend raus, wobei „hier“ neben allen anderen Orten auf der Erde selbstverständlich auch jene Stadt am Rande der norddeutschen Tiefebene sein kann. Aber was ist mit den hier bleibenden sterblichen Überresten?

Mit einem Kran mussten sie ihn bergen, den Leichnam des fünf Zentner schweren Mannes. Er passte nicht durchs Treppenhaus. Zwei Wochen lang hatte er tot vor der Couch gelegen, berichtete eine hannoversche Zeitung. Wie in solchen Fällen häufig, hatten Nachbarn die Polizei gerufen, weil es so merkwürdig roch. Im Treppenhaus stießen die Beamten auf die Freundin des Toten: „Sie hatte die Wohnung gerade verlassen und erklärte, dass sie den Mann regelmäßig zum gemeinsamen Fernsehen besucht habe – auch in den vergangenen zwei Wochen.“ Eine Tragödie hinter verschlossenen Türen, der leise Schauder aber, den sie verbreitet, ist auf ein offenes Fenster angewiesen.

Andererseits war der Mann wahrscheinlich einer der wenigen Menschen, wenn nicht der einzige Hannoveraner, der die Expo nicht besucht hat. Der Gedanke stellt sich quasi automatisch ein, wenn man von den Rekordbesucherzahlen der letzten Tage hört, aus denen sich nach den Gesetzen der Logik 20 Kilomter lange Staus auf den Autobahnen und Wartezeiten bis zu fünf Stunden vor den Pavillons ergeben. „Norwegen, Finnland, kannste alles vergessen“, wie eine Frau knapp zu ihrer Begleiterin sagte. Eine Veranstaltung kommt zu sich selbst, indem die Absurdität ihrer Vorgaben endgültig offenbar wird, insofern der Moment, wenn tatsächlich die Massen strömen, zeigt, dass sie dann nicht mehr funktioniert.

Trotzdem haben natürlich alle ihren Spaß, auch die Horde ungeschlachter Menschen, die mir auf der „Allee der Vereinigten Bäume“ entgegenwogte. Weiße T-Shirts trugen sie mit dem Aufdruck „Alfelder Bierbäuche“. Auf dem abgebildeten Bierglas steht „Prost, ihr Säcke“, auf dem Rücken die Variante „Prost, du Sack“, es dürfte ihr Trinkspruch sein. Ein Bild des Grauens, ein definitiv verheerendes und ganz und gar unheilvolles zumal.

Im Nebenberuf sind die „Alfelder Bierbäuche“ wie die meisten ihrer Zeitgenossen wahrscheinlich „Schnäppchenjäger on tour“, wie vor ein paar Tagen die Prospektbeilage der größten hannoverschen Buchhandlung hieß, in dem auch der „Atlas zur Geschichte Niedersachsens“ feilgeboten wurde mit „Karten von der Eiszeit bis zur Expo 2000“. Ja, war denn überhaupt etwas dazwischen?, werden sich die Menschen in einigen hundert Jahren fragen, und sie werden vom „Tag der Polizei“ auf der Expo erfahren: Polizeiorchester, Polizeitaucher, Polizei-Inlineskater, Polizeihubschrauber, Polizeichöre, Polizeipuppenbühnen, Polizeioldtimer, Polizeimotorräder unterstrichen einmal mehr, dass der Polizeieinsatz zur Expo „der größte in der Geschichte der Bundesrepublik“ ist (war jetzt bereits dreimal in der Kolumne dabei, bitte nicht wieder wählen).

Der Tag der Staatsgewalt traf sich messerscharf, war sozusagen identisch mit dem Geburtstag Mahatma Gandhis.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen