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einsatz in manhattanFlugzeugabsturz und Alltag in New York

Das Nudelgerücht

Am Abend der Flugzeugkatastrophe von Queens ist ein gemeinsames Dinner in Brooklyn angesagt. Alan und Molin sind für ein paar Tage aus Singapur nach New York zurückgekehrt und keine zwei Stunden vor dem Absturz in JFK gelandet. „Schwein gehabt“, sagen sie und reichen die Nudeln. Aus dem CD-Spieler wabert leichte Kost: Marlene Dietrich, Françoise Hardy, Astrud Gilberto, Robert Mitchum. Nicht mal CNN läuft im Hintergrund.

Alan ist Investmentbanker in Asien. Der 11. September hat seiner Firma, die vor drei Jahren in NY mit fünf Mitarbeitern startete, nicht viel anhaben können. Heute sind es 150: „2001 liegt unsere Wachstumsrate bei etwa 200 Prozent, 2000 waren es weit über 300. Es ist eben Rezession.“ Ein paar Jahre noch, dann macht er Auszeit, mit Haus bei Bangkok, einem Atelier für die Freundin, eventuell Kindern.

Veit und Michael aus Deutschland sind seit vier Jahren in Manhattan und sitzen jetzt auf gepackten Koffern. Anfang Dezember geht es für unbestimmte Zeit nach Berlin. Beide haben genug vom 11. September, dem Anthrax, Bush, ständiger Jobsuche. Auch Ken und Carlos sitzen mit am Tisch. Ken ist Wallstreet-Aussteiger. Seit missglückten Versuchen als Schauspieler, Sänger und Tänzer schleppt er jetzt die Getränke in einem New Yorker Club. Alle Bewerbungsgespräche sind nach dem 11. September geplatzt. Als Innenarchitekt ist Carlos von der Einrichtung der neuen Wohnung des alten Fluxuskünstlers Arman leicht überfordert: „Überall hat er diese mittig durchtrennten Objekte, wie dieses riesige Klavier. Und dann erst die Sammlung afrikanischer Skulpturen. Ins neue Apartment will er jetzt eine Skulptur aus 40 halbierten Motorrädern integrieren.“ Kati aus Los Angeles unterbricht mit einem Anruf für Alan. Ihre Wohnung, aus der sie nach dem 11. September evakuiert wurde, war direkt bei Ground Zero. Als deutschsprachige Iranerin ließ sie in den Tagen danach ihre Freunde wissen, sie würde sich ab sofort als Deutsche ausgeben. Jetzt ist sie bei ihrer Mutter in Kalifornien, das Pharmaziestudium in New York hat sie vorläufig abgebrochen.

Am Tisch kommt das Gespräch doch noch auf die Katastrophe des Tages. „Warum fallen hier alle Flugzeuge vom Himmel?“, fragt Michael. Amy bezweifelt, ob man je den wahren Grund des heutigen Absturzes erfahren wird: Bei dem TWA-Flug 800, der im Sommer 1996 zehn Meilen vor New Yorks Küste voll besetzt ins Meer knallte, gehen heute noch viele davon aus, dass er versehentlich von der US-Navy abgeschossen wurde. Viele Augenzeugen wollen vor dem Absturz eine Rakete aufsteigen gesehen haben. Wegen heute ist man sich einig. Wenn Sabotage oder eine Bombe der Grund des Crashs waren, so bliebe dies bestimmt unter Verschluss. Schließlich gilt es, Panik und Stadtflucht zu vermeiden, und der Flugbranche muss geholfen werden.

„Heute war Manhattan wieder mal Geisterstadt“, bemerkt Carlos. „Aber wenn jetzt nichts mehr passiert, wette ich, dass New York Silvester ausgiebiger denn je feiern wird.“ Ken stimmt zu: „Bei uns im Club machen die Leute fetter Party als je zuvor.“ Dass keine halbe Autostunde von hier über 250 Menschen den Tod fanden, darüber wird nicht mehr weiter gesprochen – nach den Anspannungen der letzten Zeit kann und will man nicht mehr. Vor gut zwei Monaten saß mir die israelische Illustratorin Einat Pelad in einem Café in Soho gegenüber. Auf meine Fragen bezüglich der täglichen Angst, in der sie doch leben müsse, antwortete sie fast lächelnd: dass man so weitermacht wie zuvor, wenn man das Glück hat, verschont geblieben zu sein.

THOMAS GIRST

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