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eine bahnfahrt, die ist lustig von RALF SOTSCHECK

Eine Fahrt mit der britischen Eisenbahn ist eins der letzten Abenteuer dieser Welt. Ähnlich aufregend muss früher eine Postkutschenfahrt durch den Wilden Westen gewesen sein: Man weiß nie, wann man ankommt, ob man ankommt – und ob man lebend ankommt.

Am Freitag erwischte es die Passagiere auf dem Weg von Hampton Court zum Londoner Bahnhof Waterloo. Ihr Zug raste im Zielbahnhof in eine leere Vorortbahn, die auf den Gleisen geparkt war. 25 Menschen wurden verletzt, manche schwer. Ich hatte den Knall zunächst für ein einstürzendes Baugerüst gehalten, erfahrene Bahnkunden tippten dagegen sofort auf einen neuen Unfall. Erst vor fünf Monaten waren 31 Menschen bei einem Zugunglück in London-Paddington ums Leben gekommen, weil der Lokführer ein Signal übersehen hatte. Die Regierung tat, was sie immer in solchen Fällen tut: Sie leitete eine Untersuchung ein.

Diesmal war es „menschliches oder technisches Versagen“, gab South West Trains bekannt, die den englischen Südwesten seit der Bahnprivatisierung mehr schlecht als recht versorgt. Das anschließende Tohuwabohu übertraf sogar das übliche Chaos am Freitag zur Rushhour. Der Zug nach Guildford via Woking? Gestrichen. Basingstoke? Vergiss es. Southampton? Nichts zu machen. Ich wollte nach Surbiton. Vielleicht um sieben Uhr, hieß es. Tausende von Menschen drängelten sich in der Bahnhofshalle und starrten gebannt auf die prähistorische Anzeigetafel, auf der die Züge ohne Zeit- und Gleisangabe aufgelistet waren. Dann, mit einem endlosen Ratatatatat, klappten die Täfelchen wie Dominosteine um und kündigten die Abfahrt eines Zuges nach Irgendwo an, nur nicht nach Surbiton. Sofort setzte eine Stampede ein.

Ich hatte mich schon auf eine Nacht im Bahnhof eingerichtet, als der Zug nach Surbiton doch noch fuhr. Allerdings waren die Abteile bereits so voll, dass kleinere Kinder in den Gepäcknetzen verstaut werden mussten. Platz gab es nur noch im Güterwaggon, einer Art fensterloser Viehtransporter mit Holzdielen und Gitterverschlag. Offenbar beförderte man darin normalerweise Entenküken, exotische Papageien oder andere wärmebedürftige Tiere, darauf deutete die eingeschaltete Heizspirale an der Decke hin. Zum Schluss zwängte sich noch ein Bilderbuchengländer mit Schirm und Melone in den Viehwagen, dann zuckelte der Zug los.

Nach 200 Metern kam er wieder zum Stehen. Das ist bei britischen Bahnen zwar völlig üblich, aber die Temperatur im Waggon stieg auf über 30 Grad, weil kein Fahrtwind mehr durch die Luke kam. Nach zehn Minuten – bis auf den Bilderbuchengländer hatten sich alle ihrer Jacken und Krawatten entledigt, die widrigen Umstände ansonsten jedoch erstaunlich gelassen hingenommen – ging die Fahrt weiter. An jedem Bahnhof stiegen Menschen hinzu. War ich in einen Rekordversuch für das Guinness-Buch der Rekorde geraten?

Dann kam endlich Surbiton. Bis ich merkte, dass sich der Waggon nur von außen öffnen ließ und meinen Arm durch die Luke steckte, war es schon zu spät. Next Stop Hersham. Der Spaziergang hat mir gutgetan.

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