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editorialDie Freiheit des Lesens

Gegen autoritäre Charaktere, für hohe literarische und analytische Standards. Zu dieser Literataz

Der Roman „Corregidora“ der Schriftstellerin Gayl Jones erschien in den USA im Jahr 1975. Er ist längst ein Klassiker der afroamerikanischen Literatur. Nun wurde er ins Deutsche übertragen. Das war gar nicht so einfach. Denn der Roman erzählt nicht nur von einer Bluessängerin, er ist selbst auch musikalisch: Die Erzählstimme singt den Blues und reiht sich damit ein in eine spezifisch Schwarze Tradition des mündlichen Erzählens, wie sie etwa auch Toni Morrison in ihr Werk aufgenommen hat. Wie übersetzt man das ins Deutsche? Pieke Biermann ist es gelungen, wie Sie auf Seite 6 dieser Literaturbeilage nachlesen können. Ein gutes Beispiel für eine ernst genommene Übersetzungskunst, wie sie in der deutschen Literaturszene weiterhin breit gepflegt wird.

Und zugleich ist das auch ein guter Hinweis darauf, dass es in der Literatur keineswegs direkt um das Thema geht, sondern immer um die Sprache und die Umsetzung des Themas. Manche Beobachter haben zuletzt den Verdacht geäußert, dass im Zuge der thematischen Erweiterungen in der deutschsprachigen Literatur – um die Felder Class, Race und Gender etwa – und dem Trend zum Autofiktionalen die literarischen Standards abgesunken sind. Doch das muss man nicht so sehen. Es gibt genügend Gegenbeispiele. Joshua Groß’ so empfindsamer wie irgendwo auch schräger Roman „Prana Extrem“ ist eben auch ein reflektiertes Sprachkunstwerk (S. 8). Karen Duve kann nur über die Ambivalenzen der Kaiserin Sisi schrei­ben, weil sie einen überzeugenden eigenen Erzählton gefunden hat (S. 2). Und bei dem Debütanten Finn Job liegt der literarische Einsatz unbedingt in der Coolness des Stils (S. 4).

Weniger cool, sondern eher am Rande des Nervenzusammenbruchs befindet sich derzeit die deutsche Gesellschaft. Das ist eine Diagnose, die wohl kaum ei­ne:r in Frage stellen würde. Pandemie, Krieg, Inflation – der Soziologe Stephan Lessenich versucht den Ausnahmezustand als das neue Normal zu ergründen (S. 11).

Woran wir uns im vielleicht neuen Normal nicht gewöhnen sollten, ist das hegemoniale Gebaren der autoritären Charaktere. Deren Ressentiments als einfache Wiederkehr des Faschismus zu betrachten, was oft geschieht, wäre jedoch ein analytischer Fehler. Fordern sie doch im Namen von Freiheit und Selbstbestimmung keinen starken, sondern einen schwachen Staat. Caroline Amlinger und Oliver Nachtwey analysieren in ihrem Buch „Gekränkte Freiheit“ eine neue Sozialfigur, die uns wohl noch eine ganze Weile beschäftigen wird (S. 10). Dirk Knipphals und Tania Martini

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