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dvdeskTragödie, vom Kopf auf die Füße gestellt

„Irréversible“, das Original, war, als der Film 2002 in Cannes im Wettbewerb lief, ein Skandal. Scharenweise verließen die Zuschauer*innen das Kino, nicht erst während der unerträglichen zehn Minuten, in denen Regisseur Gaspar Noé eine brutale Vergewaltigung zeigt, ohne Schnitt, nicht auszuhalten, vor allem auch deshalb nicht, weil Noés grundsätzlich affirmatives Verhältnis zum Voyeurismus die Frau und ihr Gequältwerden dem Blick des Publikums ausliefert. Noch dazu ist das Ganze abstrus homophob, indem Noé ohne jede Erklärung einen frauenhassenden Schwulen zum Vergewaltiger macht.

Die Vergewaltigung ist die Szene, die jede*r mit dem Film bis heute verbindet. Der physisch noch brutalere Racheakt, der das Kino in Cannes damals gleich leerte, liegt schon am Anfang des Films: Marcus, der Partner der vergewaltigten und ins Koma geprügelten Alex (Monica Bellucci), schlägt das Gesicht eines Mannes in einem Schwulenclub namens „Rectum“ mit einem Feuerlöscher zu Brei. Die Latexmaske, mit der das gedreht wurde, war Noé nicht überzeugend genug, das Gesicht wurde digital noch weiter zermatscht.

Wüst, delirant ist dieser Beginn, nach einem kurzen Prolog im Knast wirbelt die Kamera um die Schemen im Club, dazu rumort malmend die Musik der Daft-Punk-Hälfte Thomas Bangalter. Denn der narrative Clou des Films war ja: Er wurde von hinten nach vorne erzählt.

So hat man lange keine Ahnung, was eigentlich los ist. Von einer Plansequenz geht es zur nächsten, die aber zeitlich davor liegt, verbunden sind sie über unsichtbare Schnitte, für die die taumelnde Kamera und das wirbelnde Bild sich jeweils ins Schwarze begeben. Der Effekt ist der einer zunehmenden Stabilisierung: Nach und nach beginnt man zu begreifen, was geschehen ist.

Die zwei Männer, Marcus (Vincent Cassel) und Pierre (Albert Dupontel), waren mit Alex, der Ex von Pierre, auf einer Party, sie ging allein nach Hause, wo es in einem Tunnel unter der Straße zur Vergewaltigung kommt. Nach und nach beruhigt sich die Kamera, alles endet in der Idylle des erwachenden nackten Paars, ein wenig Liebesspiel, Schwangerschaftstest, zuletzt eine unschuldige Szene, Alex auf einer Wiese im Freibad. „Die Zeit zerstört alles“, lautet die schriftliche Botschaft am Ende des Anfangs.

Die Rückwärtserzählung war kaum mehr als ein beliebiger Gimmick, aber sie macht natürlich beim Sehen Effekt: Einerseits durch pure Verwirrung, andererseits legt das Wissen vom Ende über die harmlosen, von den Dar­stel­le­r*in­nen (teils enervierend) improvisierten Passagen spürbare Tragödienschatten. Man konnte sich schon immer fragen, wie sich die Wahrnehmung änderte, würde der Film konventionell von vorn nach hinten erzählt.

Nun hat, siebzehn Jahre später, Gaspar Noé selbst die Probe aufs Exempel gemacht. Sein sogenannter Straight Cut stellt die Sache vom Kopf auf die Füße, abgesehen von ein paar Kürzungen, dem Erzählfluss geschuldet (so Noé), sind die Szenen identisch. Uraufgeführt wurde die Neufassung diesmal nicht in Cannes, sondern letztes Jahr in Venedig.

Wüst, delirant ist dieser Beginn, die Kamera wirbelt um die Schemen im Club. Dazu rumort malmend die Musik der Daft-Punk-Hälfte Thomas Bangalter

Nicht mitgeliefert werden kann leider der unschuldige Blick, der noch nicht weiß, was in der Folge passiert. Dennoch ist klar, dass sich die Wirkung der Geschichte verändert. Aus dem langweiligen Beginn entwickelt sich, so man nach der Vergewaltigungsszene weiterzusehen gewillt ist, ein sich intensivierender Sog, eine Beschleunigung des Geschehens hin zur Selbstjustiz-Rache der gewaltsamen Art mit anti­klimaktischem Ende. Und nach dem nun an der richtigen Stelle befindlichen Abspann der Spruch: Die Zeit offenbart alles. Und sei es die Neunmalklugheit eines für immer fünfzehnjährigen Filmregisseurs.

Ekkehard Knörer

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