dvdesk: Der tödliche Autounfall als Loop
„Medium Cool“ (USA 1969; Regie: Haskell Wexler)
Medium Cool“ beginnt und endet mit einem tödlichen Autounfall, mit brutal zum Stillstand gebrachter Bewegung. Dazwischen ist der Film schnell, wach, auf dem Sprung, nimmt die Zeit, in der er spielt, in sich auf, lässt sich aufsaugen von den Bewegungen, den Bildern, die er findet. Und dass er sie findet, sehr viel eher als erfindet, das ist sein Coup, das machte Sensation, und zwar sofort, 1969, als er ein Jahr nach den Ereignissen, die er zeigt, in die Kinos kam. Dies ist, schrieb der Kritiker Roger Ebert damals, „das fast vollendete Beispiel für den neuen Film“.
Mit großer, gar nicht thematisierter Selbstverständlichkeit verbindet Haskell Wexler dokumentarische Bilder mit in sie hineingelegter Fiktion. Es ist ein Kameramann namens John Cassellis (Robert Forster), der den Crash des Beginns filmt, eine Frau liegt neben dem Wagen auf dem Highway, Cassellis filmt, und ruft dann erst den Notarzt. Das hat eine medienkritische Pointe, natürlich, gleich darauf wird die Ethik solcher Aufnahmen in einer Runde von Fernsehmenschen auch explizit ausdiskutiert.
Aber „Medium Cool“ verharrt nicht auf dieser Pointe, wirft sich in die Geschehnisse, die Milieus, ist seinerseits immer zugleich Empfangsgerät wie Reflexionsmedium und genießt auch die rasante Fahrt mit dem Motorrad, das die Aufnahmen vom Autounfall in die Innenstadt bringt, in den Loop. Wir sind in Chicago, die Yippies (von der Youth International Party um Abbie Hoffman, Jerry Rubin und andere) drohen, die Stadt beim Kongress der Demokraten im Sommer 1968 ins Chaos zu stürzen. In dieses Chaos stürzt Wexler sich, seine Protagonisten, auf dieses Chaos stürzt sein Film zu, und sieht keinen Ausweg daraus als in der Fahrt, der Bewegung, die alle Erschütterung in die schlagartige Energievernichtung des Crashs transformiert.
Die Milieus: Fernsehmenschen; Frauen am Schießstand; Militärübungen; schwarze Politaktivisten. Grade des Dokumentarischen, Grade des Fiktionalen, man soll und will das gar nicht auseinanderdividieren, denn die abrupten Schnitte, manchmal ironisch, die Musik, die schön über Gewalttätigem liegt und dann abbricht, sind Medien der Verbindung des Unverbundenen, gerade indem sie keine falschen Kontinuitäten und Kausalitäten behaupten, sei es in der Erzählung oder in der Wirklichkeit oder in der erzählten Wirklichkeit: Dies geschah, mit Gründen; es gibt diese Gründe, aber sie führten nicht auf simple Weise zu diesem Geschehen. In den Lücken, die der Film lässt, in den Sprüngen, die er macht, in den Schnitten, die er durch seine Gegenwart zieht, gibt er eine Epoche zu sehen und zu denken, aber einfache Antworten gibt er nicht.
Haskell Wexler war vermutlich der einzige Mensch, der diesen Film in diesem Moment auf diese Weise drehen konnte. Einer der besten Kameramänner Hollywoods („Wer hat Angst vor Virgina Woolf?“, „Einer flog über das Kuckucksnest“), ein erklärter und ungebeugter Mann der Linken (noch sein letzter Blogeintrag von Ende November ist eine kritische Analyse Obamas und seiner Kriegspolitik), ein völlig eigenständiger Cinéma-vérité-Dokumentarist. Er brachte Fertigkeiten und Haltungen und Aufnahmen und Erzählformen zusammen, von denen man erst angesichts des Ergebnisses sagen konnte, dass sie genau so zusammengehörten.
Einerseits hat „Medium Cool“ durchaus Schule gemacht, gilt heute als frühes und unübertroffenes Muster eines „New Hollywood“, das seinerseits längst Vergangenheit ist. Andererseits ist Haskell Wexler einer von jenen geblieben, die eher von Spezialisten verehrt werden. Das aber sehr. Am vergangenen Sonntag ist er im Alter von 93 Jahren gestorben.
Ekkehard Knörer
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