die wahrheiz: Stümpern eine Stimme
Die Mitte der Gesellschaft: Zu Besuch im Verein der Dilettanten.
Sie sind überall anzutreffen. Sie sitzen in Parlamenten, Gremien, Ausschüssen, Behörden, Sportvereinen, sowohl im öffentlichen als auch im privaten Raum - die Dilettanten. Der ursprünglich positiven Konnotation des Wortes beraubt, fuschen sich diese Menschen tapfer durch ihren Alltag, aber bleiben meist unerkannt. Sie fühlen sich alleingelassen, weil keiner ihnen Gehör schenkt.
Gerrit van der Lerche will den Dilettanten endlich eine Stimme geben und hat den "Verein vereinter Dilettanten" (Ver.Di) gegründet. Zum Interview kommt er mit dem Fahrrad. Mit hohem Tempo rast van der Lerche am vereinbarten Treffpunkt vorbei, greift immer wieder hilflos in die Bremsen und wird nur durch ein parkendes Auto gestoppt. Glücklicherweise übersteht er den Aufprall ohne größere Blessuren. "Das Rad habe ich selbst zusammengebaut!", erklärt van der Lerche stolz zur Begrüßung und reicht die Hand zu einem ungelenken Schütteln. Sein schwarzes Hemd ist schief geknüpft, das linke Schnürband am Schuh hängt offen herab.
Der Vereinssitz von Ver.Di befindet sich in einem kleinen Lagerraum, der eigentlich einem Elektronikfachhandel gehört, aber nicht genutzt wird. "Das ist nur vorübergehend, bis ich was Angemessenes gefunden habe", entschuldigt sich van der Lerche, während er mit dem Fuß leere Pappkartons zur Seite schiebt.
Die Idee, den Verein zu gründen, sei ihm während der Arbeit gekommen, erzählt der hauptberufliche Investmentbanker. "Ich saß in einer Konferenz, wo es um die Konsequenzen von Basel III für den Bankensektor ging. Plötzlich ist mir klar geworden: Keiner von uns versteht eigentlich, was wir beruflich machen. Fragen Sie meine Kollegen, was Credit Default Swaps sind oder wie Derivate funktionieren! So schnell können Sie gar nicht gucken, wie die auf dem Klo verschwinden!"
Nach einer schlaflosen Nacht, sei er dann zu einer bahnbrechenden Erkenntnis gekommen. In nahezu allen Teilen der Gesellschaft hätten sich Prozesse verselbstständigt, die keiner mehr verstehe. Millionen Menschen gingen täglich zur Arbeit, ohne genau zu wissen, was sie den ganzen Tag über machten.
"Nehmen Sie nur die Politiker! Die rennen permanent in Sitzungen, diskutieren stundenlang und hinterher verabschieden sie irgendetwas, das nach ein paar Wochen hinfällig ist. Da wird gepfuscht, dass der Plenarsaal raucht." In diesem Moment geht das Licht im Büro mit einem lauten Knall aus. Van der Lerche bittet um Entschuldigung, vermutlich habe ein Kabelbrand den Kurzschluss verursacht. Die Stromversorgung habe ihr Schatzmeister improvisiert.
Während er eine Kerze anzündet, fährt van der Lerche fort. Um das große Mitgliederpotenzial zu bündeln, habe er sich um die Gründung von Ver.Di bemüht. Zwischenzeitlich bekam er allerdings Konkurrenz - von der FDP.
"In Berliner Kreisen gingen Gerüchte um, die FDP wolle sich nach den Wahlschlappen neu orientieren. Angeblich sei geplant gewesen, aus der Politik auszusteigen, um einen Lobbyverband zu gründen: Freiheitlich Dilettantische Populisten. Aber Philipp Rösler hat nicht mitgemacht. Angeblich habe seine Frau gedroht, ihn übers Knie zu legen, wenn er seine Karriere in der Politik aufgibt."
Mittlerweile ist Helga Härtling eingetroffen. Sie ist ehrenamtliche Buchhalterin und "Mädchen für Alles" bei Ver.Di. Die hauptberufliche Hausfrau habe schon "immer Spaß an Verwaltungsaufgaben gehabt" und sich über die Abwechslung gefreut. Frau Härtling humpelt. Sie ist am Vortag beim Fensterputzen vom Stuhl gefallen und hat sich den Knöchel verstaucht.
Frau Härtling hat Kaffee in einer Thermoskanne und selbst gebackenen Kuchen mitgebracht. Während sie eine hellbraune Flüssigkeit in Plastikbecher füllt, plaudert sie beiläufig aus, dass der junge Verein in Schwierigkeiten sei. Genau genommen seien sie zwei Wochen nach der Gründung insolvent.
Frau Härtling holt einen schmuddligen Schreibblock aus ihrer Tasche. "Sehen Sie, links stehen normalerweise die Einnahmen und rechts die Ausgaben. Ich Dummerchen habe aber den Block verkehrt herum gehalten und die Seiten verwechselt." Deshalb seien sie als Ver.Dianer von einem ständig wachsenden Kapitalstamm ausgegangen und hätten weiter investiert, da Vereine keinen Gewinn erwirtschaften dürften. "Ich habe mir beispielsweise einen Dienstwagen zugelegt. Mit dem Knöchel bin ich ja schlecht zu Fuß."
Gerrit van der Lerche, der seit geraumer Zeit kein Wort mehr gesagt hat, verschluckt sich am staubtrockenen Kuchen. Sein heftiger Hustenanfall löscht die flackernde Kerze. Doch trotz der plötzlich eintretenden Dunkelheit strahlt er von innen her so etwas wie unverbrüchliche Zuversicht aus. Das Leben geht weiter - auch für die vereinten Dilettanten.
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