die wahrheit: Die Schweiz, ein mörderischer Staat
Welcher Staat in Europa unterstützt seit hundert Jahren tatkräftig beleidigte Nachbarn, rüde Killer, enttäuschte Liebhaber, Selbstmörder....
Welcher Staat in Europa unterstützt seit hundert Jahren tatkräftig beleidigte Nachbarn, rüde Killer, enttäuschte Liebhaber, Selbstmörder, Ehefrauen- und Schwiegermütter-Erlediger und Amokläufer aller Art bei ihrem Handeln?
Die Antwort wurde am 21. Juni 2007 vom Schweizer Journalisten Jürg Schoch im Zürcher Tages-Anzeiger gegeben. Schon eine Kurzfassung enthüllt Bizarres. Jeder Staat bastelt sich einen Gründungsmythos. Der Schweizerische Bundesstaat wurde 1848 im Windschatten der europäischen Revolutionen gegründet. Aber 1891 datierte man die Gründung um volle 600 Jahre zurück. Man betrachtete fortan das sagenhafte Geschehen auf dem Rütli im Jahr 1291 - wie es Schiller nach alten Legenden zum Drama "Wilhelm Tell" gedrechselt hat - als Gründungsakt. Dadurch wurde jeder Eidgenosse zum Nachkommen Wilhelm Tells. Aber was ist ein Tellensohn ohne Pfeil und Armbrust?
Die Berner Regierung beantwortete die Frage 1893 damit, allen Milizsoldaten außer einem Karabiner auch 30 scharfe, in einer Blechbüchse eingeschweißte Patronen mit nach Hause zu geben. Der Tellensohn sollte jederzeit bereit sein, fremden Vögten oder ins Land eindringenden Soldaten mit der Waffe in der Hand entgegenzutreten. Militärisch und politisch war das von Anfang an eine skurrile Idee, aber tauglich für das Bild vom allemal "wehrhaften Schweizer" in den Schulbüchern.
Die patriotische Idee zeitigte jedoch Kollateralschäden im familiären Umfeld der eben bewaffneten Ehemänner. Schon nach vier Jahren zählte man in einem einzigen der 25 Kantone 19 Selbstmorde und 25 Verbrechen, die mit dem Karabiner und der Notration an Patronen (verniedlichend "Taschenmunition" genannt) begangen wurden. Wie viele Ehefrauen, Schwiegermütter, Väter und Kinder dank der fürsorglichen staatlichen Beihilfe für wehrhafte Männer buchstäblich ins Gras beißen mussten, ist nicht bekannt. 1898 zog man die Taschenmunition wieder ein.
Unter dem Eindruck der deutschen Blitzkriege in Polen und Frankreich 1939/40 entschloss sich die Regierung jedoch erneut dazu, den Soldaten scharfe Munition auszuhändigen. Das war eine Beruhigungspille ohne reelle militärische Bedeutung, denn gegen die Panzer und Flugzeuge der Wehrmacht hätten die Schweizer mit ihren Karabinern alt ausgesehen. Mit einer kurzen Unterbrechung zwischen 1945 und 1952 blieb es bis heute dabei. Jeder wehrpflichtige Schweizer - also fast alle Männer - verwahrt scharfe Munition und ein modernes Sturmgewehr im Kleiderschrank, für den Fall, dass "der" Russe kommt oder die Ehefrau nicht spurtreu ist.
Die Zahl der Menschen, die dem staatlich inszenierten Brauchtum seither ihren Tod verdanken, ist nicht bekannt. Spektakuläre Amokläufe haben jetzt die beiden Kammern des Parlaments zur Einsicht gebracht, dass die Taschenmunition nicht mehr verteilt, sondern besser in Zeughäusern eingelagert wird. Die Pointe: Ihre Sturmgewehre dürfen die Männer nach wie vor nach Hause nehmen. Sich in der Schweiz - legal - Munition zu beschaffen, ist etwa so schwierig, wie Bier zu kaufen. Es darf also weiter gestorben werden in der Selbstmörderschweiz.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Neue EU-Kommission
Es ist ein Skandal
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden