die wahrheit: Sie nannten ihn Pille
Vom Verlust der Spitznamen im Fußball. Das Wahrheit-Essay zum Bundesliga-Auftakt.
Sie nannten ihn Pille
Vom Verlust der Spitznamen im Fußball. Das Wahrheit-Essay zum Bundesliga-Auftakt
Wenn heute eine neue Spielzeit der Fußballbundesliga beginnt, werden wir erneut zahlreiche namhafte Fußballspieler bei der Ausübung ihres Berufes bewundern können, denn "große Namen scheinen große Spiele zu garantieren" (Klaus Theweleit). Noch ein wenig gespannter freilich ist man immer wieder auf jene derzeit noch Nobodys, die sich aus dem Nichts heraus im Zeitraum der anstehenden Saison einen Namen zu machen anschicken. So wie zuletzt zum Beispiel der Stuttgarter Stürmer Mario Gomez, der es binnen Jahresfrist gar zum Nationalspieler und Fußballer des Jahres brachte. Wohingegen: "einen Namen gemacht"? Mario Gomez heißt immer noch Mario Gomez!
Das war "früher" anders, als sich Spieler fürwahr Namen machten beziehungsweise welche erhielten: Spitz- und vor allem Kampfnamen zwecks oft Verspottung und öfter noch Huldigung ihrer Leistungen und Eigenschaften, eingedenk des Umstands, dass der Name das stärkste Symbol für die Einmaligkeit eines Menschen ist seit alters. Vor allem aber als Ausweis, dass ein dergestaltet ge- und verehrter Spieler als "ein Guter" anzuerkennen, ja: zu lieben sei.
Vor allem in den Sechzigerjahren war die Spitznamenvergabe üblich. In der noch jungen "Eliteliga" liefen zuhauf Kicker herum, deren bürgerliche Namen pointierende Beiwörter erhielten: Da durchpflügte "Acker" Weist für Borussia Dortmund und Werder Bremen den grünen Rasen, stand "Tanne" Fichtel wie ein Baum in den Strafräumen seiner diversen Arbeitgeber, pflegten "Bulle" Weber (1. FC Köln) und desgleichen "Bulle" Roth (Bayern München) das körperbetonte Spiel, durchkurvten "Zickzack" Matischak (Werder Bremen) und nicht minder "Zickzack" Roggensack (Arminia Bielefeld) der Kontrahenten Reihen, wenn auch kaum so vollendet wie Reinhard "Stan" Libuda, während Bernd "Hammer" Nickel mit schmiedehartem Bumms die direkte Verbringung des Balles ins gegnerische Gehäuse präferierte. Nicht zu reden vom "Bomber" Müller. Sie alle handelten so, weil sie von Trainern geführt wurden, deren didaktische Konzepte rein gar nicht von Prinzipien der antiautoritären Erziehung tangiert waren. Von Max Merkel, dem "Mann mit der Peitsche", oder dem "eisernen Fritz" Langner wurden sie gedrillt und geschliffen zum athletischen Kick und dafür von den staunenden Zuschauern mit Kampfnamen geadelt für martialisches Tun und Treten.
Allerdings überwog doch der liebevoll-lustige Spitzname: "Emma" Emmerich, "Hoppy" Kurrat, "Aki" Schmidt", "Pico" Schütz und viele andere wurden nahezu eins mit ihren nicknames, die offenkundig schwerpunktmäßig beim Meidericher SV reüssierten: "Da war der 'Pitter', der bürgerlich immer nur Dieter hieß, 'Pille' und 'Eia' oder 'Lullu'", berichten Homann/Thoman in ihrem Buch "Als die Ente Amok lief" und enthüllen am Duisburger Beispiel, wie derlei Namen zustande kommen können. Werner "Eia" Krämer etwa verdankte seinen Kurz- und Kose-Titel der schlichten Anekdote, dass er als Kind ihn provozierende Schüler mit Eiern beworfen hatte. Während sich als Quelle des Horst-"Pille"-Gecks-Gags nicht dessen Liebe zum Ball (Pille), sondern die Anatomie seiner Füße entpuppt, da Gecks "Füße wie eine Pille-Ente" hatte, wie sein Trainer Multhaup meinte. Und der Titel "Ente" war bereits an Essens Willi Lippens vergeben auf ewig.
Noch in den Siebziger- und Achtzigerjahrern - wenn auch spürbar auslaufend - hielt sich das Phänomen, als "Schädel-Harry" Karger die Liga wuchtig beglückte, "Kobra" Wegmann sich geschmeidig durchs Defensivgeflecht wand, "Knipser" Decheiver einlochte und "Ata" Lameck irgendwie das Seine verrichtete, ganz zu schweigen von "Katsche" Schwarzenbeck oder Marc "Kampfschwein" Wilmots.
Heute hingegen: einsame Einzelfälle. "Zecke" Neuendorf - doch der Berliner hat just seine Karriere bei Hertha beendet. Oliver Kahn, der sowohl "Titan" als auch "King" oder "King-Kong" ist, wird ebenfalls bald in den Ruhestand gehen. Dann ists vorbei mit dem "Namen machen", und es bleiben lächerliche Putzigkeiten à la Schweini, Poldi, Metze. Sogar als Trainer bringt man es nur noch zum niedlichen Jogi, Klinsi oder Kloppo, eine einzige entwürdigende Infantilisierung.
Bereits 1989 interpretierte "Pille" Gecks den "Verlust der Spitznamen als ein Zeitzeichen von Veränderung", nämlich als "Verlust der Hinterhöfe, der Straßen und Gassen", wohl der Entfernung des Spiels von seinen proletarischen Wurzeln, die seitdem einhergeht mit einer allumfassenden Schnickschnackisierung des Fußballs. Kommod in den Sitzschalen der Lounge-und-Event-Arenen aufgehoben, scheinen sich Fans zumindest weniger zu Kampfnamensschöpfungen inspiriert zu fühlen als einst auf den hölzernen Stehtribünen jener Spielstätten, die sie Kampfbahn nannten.
THOMAS SCHAEFER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Desaströse Lage in der Ukraine
Kyjiws Wunschzettel bleibt im dritten Kriegswinter unerfüllt
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt