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die wahrheitIm Steinbruch der Liebe

Abenteuer Kanada. Urlaub im Land der Nüsse, Kniebeugen und Hotelzimmer.

1. Tag: "Was wünschen Sie?", will der Fragebogen meines kanadischen Hotels wissen: "Frische Tische, eine Sammlung Fensterschlitze, das Jahr 1973?" Ich überlege etwas. Unter dem Satz "Ein Teetisch fehlt" kreuze ich schließlich "Ja" an. Als ich dem Zimmerkellner den Fragebogen aushändige, bekomme ich eine Tüte Nüsse. Dafür nimmt er die beiden Zimmerstühle mit. "Das hier", denke ich zuversichtlich, "wird ein großes Abenteuer werden."

3. Tag: Bisher hat es nur geregnet, unmöglich, das Zimmer zu verlassen. Als es nicht aufhört, beginne ich, die Bilder in meinem Reiseführer zu fotografieren, damit ich ein paar schöne Erinnerungen habe. "Die Malbaie-Gegend bietet gute Möglichkeiten, um an der Bucht spazieren zu gehen", notiere ich.

5. Tag: "Würden Sie jemandem unsere Schubladen empfehlen?", will man in einem neuen Fragebogen wissen. "Wie viel norwegische Stühle passen in den Wandschrank?" und "Finden Sie die Zimmertür nur mit Ihren Ohren?" Ich schätze den Weg vom Schreibtisch zur Tür, bin mir aber nicht ganz sicher. "Es kommt darauf an", notiere ich schließlich auf dem Absatz "Notizen". Als der Zimmerkellner erscheint, um den Fragebogen zu holen, nimmt er meinen Nachtschrank mit.

7. Tag: Um mich fit zu halten, habe ich mir angewöhnt, täglich 30 Kniebeugen vor offenem Fenster zu machen. Dabei kann ich den Regen spüren, der mir ins Gesicht schlägt, wenn ich mich nach den Kniebeugen wieder aufgerichtet habe. Nach einiger Zeit bleibe ich unterhalb des Fensters sitzen und schaue ins Zimmer. "Montreal", lese ich später, "ist eine Stadt, die erlaufen und erlebt sein will. Erst dann werden Sie ihr unvergleichliches Temperament, die Lebensfreude ihrer Bewohner und ihre vielfältige Kultur kennen und schätzen lernen."

10. Tag: Auch heute wieder nur Regen. Inzwischen zweifle ich an meinem ganzen Leben, brauche eine Idee, die mir weiterhilft. "Turnschuhe für Pferde" fällt mir ein und "Rasierschaum für Äpfel" und die Fernsehserie "Über die Möglichkeit, mit Hilfe von fachgerecht zubereiteten Kartoffelsalat zu einem erfüllten Leben zu gelangen". Bin mir aber nicht sicher, ob es mir tatsächlich nützt.

12. Tag: Der Zimmerkellner kommt und fragt: "Sind das ihre Schuhe?" Ich probiere alle an. Aber keiner passt. Der Kellner baut mein Bett ab, nimmt es mit und zieht beleidigt von dannen. Die Schuhe lässt er da.

13. Tag: Weiter Dauerregen, fühle mich unvermindert elend. Versuche bessere Überlebensstrategien zu entwickeln: "Papiere liegen in der Getränkekiste. Langärmelige Poloshirts tragen. Dosen nur in Echtzeit öffnen", notiere ich. Später Entwurf einer Kurzgeschichte: "Käptn Ahabs Kampf gegen die weiße Wand".

14. Tag: Höre ich von draußen nicht laute Musik? Sind das nicht die Schatten eng umschlungener Liebespaare, die an meiner Zimmerwand tanzen? "Im Steinbruch der Liebe", verkündet mein Reiseführer, "finden Sie schnell größere Schieferplatten, die sich mit etwas Geschick zu geschmackvollen Halsketten auffädeln lassen."

16. Tag: Ein neuer Fragebogen verlangt Verbesserungsvorschläge: "Es müsste mehr ? geben!", "Es sollte ? sein!" und "Das ? könnte besser werden!". Ich trage nacheinander "Frieden", "Liebe" und "Weltgericht" ein. Fühle mich klein und unbedeutend. Halte die Antworten trotzdem für angemessen. Der Zimmerkellner räumt die restlichen Möbel aus meinem Zimmer.

17. Tag: Im Grunde sind die komplizierten Dinge ganz einfach: "Was ist, das ist!", "Ein Ding kann unmöglich zugleich sein und nicht sein." und "Vergiss alles, was ich eben gesagt habe."

18. Tag: Der Zimmerkellner kommt, vernagelt das Fenster mit Brettern, verlässt das Zimmer und schließt die Tür ab. Danach höre ich ihn auf dem Flur fröhlich pfeifen.

18. Tag (später): Wenn ich mir meine Nüsse gut einteile, kann ich hier bis zum Ende meines Urlaubs ohne größere Probleme überleben. "Dramatische Berge und idyllische Landschaften, grandiose Ausblicke und malerische Dörfer in romantischer Natur. Kanada ist ein Fest für die Sinne", berichtet mein Reiseführer. Ich schaue noch für einen Moment auf die Bretterwand vor meinem Fenster, gegen die der Regen prasselt. Dann schließe ich die Tüte mit den Nüssen.

19. Tag: Hatte einen schweren Traum: Ich bin alt und liege in meinem Sterbebett. Plötzlich erscheint der Zimmerkellner. Er trägt einen Frack mit Zylinder und ruft: "Im Bett wegsterben, das kann jeder!" Dann beginnt er eine kleine Varieté-Vorführung mit der Imitation kanadischer Elche, wobei er immer "Was ist das?" ruft. Es folgt eine Stepptanznummer zum Gesang von Buckelwalen. Schließlich singt er zu einer selbst erdachten Melodie "Ottawa, ja, ja, ja, hier fangen Freude und Frohsinn an!" Dabei verwickelt er sich in einer offenen Stromleitung und bekommt einen elektrischen Stoß, was seine Darstellung aber nur noch mitreißender erscheinen lässt. Als ihm ein Bühnengewicht auf den Kopf fällt, steppt er begleitet von einer Gruppe attraktiver Tänzerinnen unverrichteter Dinge weiter. Bei einem gewagten Ausfallschritt stürzt er schließlich, greift nach einem Bühnenseil, das sich unglücklich um seinen Hals legt, während er in eine offene Falltür stürzt. Seine letzten Worte sind: "Ich hätte noch gern etwas von dem Nachtisch." Dann verstirbt er mit einem triumphierenden Lächeln.

21. Tag: Durch einen Spalt erblicke ich einen Bus, der vor dem Hotel steht. Er ist leer. Als ich versuche, durch das Fenster nach außen zu gelangen, fährt er weg. Enttäuscht lasse ich mich ins Zimmer zurückfallen. Draußen regnet es weiter. JAN ULLRICH

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