die wahrheit: Singen mit Dieter Sinatra
Dieser Tage unternahm ich eine längere Autofahrt in Begleitung zweier Damen, die mit ihren elf Jahren bereits den lieblichen Zustand der Frühpubertät erreicht haben....
Dieser Tage unternahm ich eine längere Autofahrt in Begleitung zweier Damen, die mit ihren elf Jahren bereits den lieblichen Zustand der Frühpubertät erreicht haben. Das bedeutet in erster Linie, dass die Stimmung auf dem Rücksitz ebenso instabil wie dominant werden kann. Um gegen Unbill aller Art gewappnet zu sein, hatte sich jede von uns mit Musik und Hörbüchern ihres Vertrauens versorgt.
Als die Mädchen noch jünger waren, half es im Falle atmosphärischer Störungen und zwischenmenschlicher Kollisionen, im Auto ein Lied anzustimmen. Russische Volkslieder wirkten zum Beispiel wunderbar sedierend. Später mussten die Kinder selber singen. Vor Jahren waren wir auf einer mallorquinischen Uferstraße unterwegs. Die Haarnadelkurven verlangten unseren Mägen buchstäblich das Letzte ab. Doch der Bassist eines bekannten Jazztrios und stoischste Mensch, den ich kenne, lenkte den Wagen. Irgendwann rief er den kreidebleichen Mädchen ein munteres "Singt doch mal was Schönes" zu. Und siehe da! Das Würgen und Jaulen fand ein Ende. Glockenhelle Kleinmädchenstimmen intonierten das bekannte Kinderlied: "Määäänner sind Schweiiiine! Traue ihnen nicht, mein Kind ... Sie wollen alle nur das eine ..." Wimmernd vor Lachen brach der Bassist über dem Lenkrad zusammen und kutschierte seine zwitschernde Fracht so gefährlich nah am Abgrund, dass ich sehr muttihaft um Ruhe und Konzentration bitten musste. Ich wollte noch nicht sterben. Nicht wegen der "Ärzte".
Nun also bestiegen die jungen Damen, um Jahre älter und deutlich gereift, wieder einmal gemeinsam mit mir den Wagen zu einer Ausfahrt. Da mit dem iPod zugestöpselt, registrierten sie kaum die Musik aus der Anlage. Doch es dauerte nicht allzu lange, da begannen die Mädchen laut zu singen. Irritiert nahm ich zur Kenntnis, dass die Sechstklässlerinnen nun mit Inbrunst und begleitet von unbeholfenen Hiphop-Gesten "Eh, du kleine Sau, zeig mir, was du brauchst" intonierten. Ich kassierte umgehend den iPod und verordnete meinen eigenen Soundtrack. Allerdings erklang dort mit "Bang bang, he shot me down" auch nicht gerade eine Hymne des Feminismus. Um vom Text abzulenken, erklärte ich: "Das ist Nancy Sinatra, die Tochter des berühmten Entertainers Frank Sinatra." Auf das fragende Schweigen folgte nun die Erläuterung, was ein Entertainer ist: "Jemand, der singt, witzige Sachen erzählt, die Leute gut unterhält." - "Aha!", machte es vom Rücksitz: "So wie der Dieter!"
Ausgerechnet Dieter Bohlen, dieser Minderjährigenschlabberer, dieser lebende Wiedergänger meines Holzkopfkaspers von 1965, dieser ... - dass sie Dieter Bohlen mit Frank Sinatra verglichen und auch noch vertraut "der Dieter" nannten, das schmerzte mich schon sehr. Die alte Dieter-Wunde, mir schon zu Ostzeiten durch Dieter Birr von den Pudhys zugefügt, riss wieder auf. Wenn dieser Dieter "Geh zu ihr und lass deinen Drachen steigen" röhrte, ergriffen alle peinlich berührt die Flucht. Keine wollte seinen "Drachen" ...
Später sangen wir dann wieder "Männer sind Schweine". Was die Mädchen betrifft: völlig ironiefrei. Ich kann nichts dafür. "Die Ärzte" sind im Volkslied angekommen.
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