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die wahrheitDie Penetranz der Schweiz

Kommentar von Jürgen Roth

Während einer kürzlich absolvierten Schweizrundreise fragte ich die Fremdenführerin, die mich durch Genf geleitete, ob sie wisse, woher die Schweizer Reinlichkeit rühre...

..ob sich vielleicht Soziologen oder Kulturhistoriker mit diesem Phänomen beschäftigt hätten, ob Hypothesen existierten, Erklärungen, womöglich gar Theorien. Nein, meinte die ältere Dame, ihr sei diesbezüglich nichts bekannt, aber sagen könne sie immerhin, sie sei, wie alle Schweizer, so erzogen worden, dass man die Um- und Mitwelt nicht verschmutze. Sie glaube, diese Haltung sei darauf zurückzuführen, dass die Schweizer nie Erfahrungen mit Krieg und Zerstörung gemacht hätten, weshalb sich das Gefühl erhalten habe, auf die Dinge achtgeben zu müssen. Wer, im Umkehrschluss, erlebt habe, wie die Welt um ihn herum in Schutt und Asche gelegt wurde, entwickele ihr gegenüber eine erschreckende Gleichgültigkeit.

Das leuchtete mir ein, und ich schaute mir weiter und gleichwohl ein wenig verwundert die fleckenlosen Schweizer Städte, Dörfer und Landschaften an. Ein Kollege behauptet zwar, er habe in Zürich mal einen Autoreifen am Gestade der Limmat gesichtet, doch das nehme ich ihm nicht ab, obwohl er ein ehrenwerter Mann ist.

In Montreux sah ich dann, wie ein Bediensteter der Straßenreinigung Unkraut in einem Rinnstein mit einem Flammenwerfer beseitigte. Nein, regelrecht hinrichtete. Da wendete sich das Blatt der Anschauung, wenn ich das so sagen darf. Das war mein Schweizer Saulus-Paulus-Erlebnis. Die Schweizer Sauberkeit, wurde mir jetzt klar, ist das Ergebnis mühsam gezügelter Aggressionen, Ausdruck eines durch Zwangsverhalten kompensierten Welthasses, Resultat einer permanenten paramilitanten Übersprungshandlung, weil der Schweizer von morgens bis abends nichts als Schönheit vor Augen hat, landschaftliche Schönheit - und die nährt in ihrer Penetranz gewaltige nihilistische Neigungen, die in andere Bahnen gelenkt werden müssen, sonst gnade uns Gott vor den Schweizern!

Nach vier Tagen war ich jedem Tunnel dankbar. Jeder Lärmschutzwand. Und jedem Bahndamm, der den Blick verstellte - den Blick auf diese ewig saftigen, gestriegelten Wiesen; diese lieblichen Äcker; die mit Façonschnitt in der Gegend herumstehenden Baum- und Buschgruppen und Gehölze; die sanft abfallenden und ansteigenden Gemarkungen, dieses Gesocks; die am Horizont sich stets anmutig abzeichnenden Wald- und Gesteinslinien und -säume, diese blöden Ärsche; die Hügel, die Täler, die smaragdgrünen Flüsse; die gelbgrün in der Sonne flirrenden Bergbuckel; die brotdummen Streuobstwiesen; den polierten Himmel; und zuletzt auf diese beschissenen Alpen."

"Die Alpen sind widerlich", dekretierte Thomas Bernhard. Mein Kumpel Markus H., gebürtiger Basler und Redakteur bei der NZZ, unterschreibt das. "Ich hasse die Alpen", sagt er. "Die einzige Stadt in der Schweiz, von der aus man die ekelhaften Alpen nicht sieht, ist Basel. Du kannst es in der Schweiz nur in Basel aushalten. Das ist die Wahrheit."

"Dich will ich loben: Häßliches, / du hast so was Verläßliches", dichtete Robert Gernhardt. Es sei der Schweiz hiermit ins Stammbuch graviert!

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