die wahrheit: Unendliche Jahre des Glücks am Fluss
Perlen der Weisheit: Meister und Schüler im Ringen mit der Zeit und der Lehre des Fernen Ostens.
Der Meister saß auf seiner Matte. Da fragte ihn der Schüler: "Meister, sage mir, was ist Glück?" Still strich der Wind über den Bambus, und der Meister verfolgte gebannt den flüchtigen Flug der Schwalben. Besonnen hob er die Schale und nippte einen Schluck Tee, betrachtete den wankenden Gang des Käfers, den schnellen Lauf der Ameise und das fließende Wogen der Wolken. Und er öffnete den Mund und erwiderte: "Habe ich dich nicht gelehrt, die Ruten zu einem Besen zu binden und die Hütte zu kehren in der Einsiedelei, auf dass der Staub schwinde aus der Stätte?"
"Ja, o Meister, das hast du mich gelehrt. Sieben Jahre habe ich damit verbracht, die Ruten zu schneiden, das Messer zu spitzen und zu schärfen und zu pflegen den Schleifstein mit Wasser aus dem Qiantang-Fluss und darauf zu achten, dass die Ruten in ihrer Länge und ihrer Dicke, in ihrer Geschmeidigkeit und in ihrer Widerständigkeit im besten Maße dem Staub zu trotzen vermögen."
Wieder nippte der Meister, blickte gen Osten, dann gen Westen, dann gen Norden und dann gen Süden. "Und habe ich dich nicht gelehrt", so der Meister weiter, "das Mahl zu bereiten, das Reiskorn zu ernten, das Wasser zu schöpfen, das Feuer zu entfachen und die wärmende und spendende Flamme zu nähren?"
"Ja, o Meister", so der Schüler, "wiederum sieben Jahre habe ich damit verbracht, die Tonschale zu pflegen, den Reis zu schälen und Sprossen ihm beizugesellen. Ich habe gelernt, das Wasser aus dem Qiantang-Fluss zu schöpfen, es in den erzenen Topf zu gießen und mittels des Steins, der da Feuer spendet, ein Wärmendes zu entfachen, auf dass der Reis schneller quelle als der Wind durchs First deiner Bambushütte pfeift."
Der Meister strich mit dem Finger durch den Sand, bildete das Zeichen Fu und verwischte es wieder, grüßte den Skorpion zur Rechten, die Schlange zur Linken, und er nippte und sprach: "Und habe ich dich nicht gelehrt, das Linnen zu wässern, es in die Fluten zu tragen und eins werden zu lassen mit dem Fließen des Fließenden und es auf die Leine zu hängen, die da gerichtet ist gen den Spender der Wärme und des Lichts?"
"Gewiss, o Meister", ereiferte sich der Schüler, "sieben weitere Jahre waren es, da ich tagtäglich das Laken ergriff, es wider die Winde hielt, die da bliesen in einem fort. Und ich lernte die Nadel zu führen und das Garn, sollte ein Loch wider das Eins des Linnens drängen. Und sprach die Wolke, sie wolle Wasser lassen, da griff ich den Stoff, ihn zu schützen vor dem Nass. Und ich wusste den Strom des Qiantang-Flusses zu nutzen, wusste hinwegzuspülen die Reste von Nachtschwüle und Albtraum."
Kirschblüten flogen dahin, tanzten am staubigen Wegesrain, und ohne Unterlass zirpten die Zikaden, als der Meister nippte und frug: "Und habe ich dich nicht gelehrt, den Menschen ein Freund zu sein, zu erkunden, wes Leides sie leiden, wes Wohllauts sie entbehren, welch Zipperlein sie plage und worin ihres Nachbarn Dünkel bestehe?"
"Ach", so der Schüler, "erneut sieben Jahre gingen dahin, mich zu lehren das Dasein der Seienden, und das Funkeln der Augen zu bergen im Balsam der Welle des Seins, das ausgegossen ist im Gemach und Ungemach, zu spüren den Knochen des Nächsten und zu lindern den Unschlitt im Herzen mit einem Schlucke aus dem reinen Nass des Qiantang-Flusses."
Nebel stieg auf. Und der Meister hob die rechte Augenbraue. "Wohlan denn. So sind fast dreißig Jahre ins Land gegangen. Doch sprich: Was ist mit dem Müll?" Und also zog der Schüler dahin zu dem Qiantang-Fluss, zu leeren die Tonne vom Inhalt, zu trennen das Lebende vom Toten und zu sondern das Papier vom künstlichen Stoff, sieben Jahre lang.
Der Meister indes saß auf seiner Matte. "Immer diese Fragen", murmelte er.
GERMAN NEUNDORFER
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