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die wahrheitFolgenloser Fortschritt

Kritik und Selbstkritik: Warum Hegel seine Vorlesungen am 14. Juli immer ausfallen ließ.

Ob die Bräuche im Umgang miteinander härter oder ziviler geworden sind, ist eine alte Streitfrage. Und nicht immer hilft bei der Beantwortung Hegels Rat, man müsse nur vernünftig in die Geschichte hineinschauen, dann würde sie auch vernünftig zurückblicken. Die Sache mit Kritik und Selbstkritik ist so eine Streitfrage.

Im 1975 in der DDR erschienenen "Philosophischen Wörterbuch" heißt es dazu: "Innerhalb der verschiedenen gesellschaftlichen Kollektive, denen jedes Mitglied der sozialistischen Gesellschaft angehört, dienen Kritik und Selbstkritik als Mittel der Erziehung zu sozialistischen Persönlichkeiten." Erziehung? Und was ist mit jenen, die partout weder er- noch gezogen werden wollen, von Kollektiven schon gar nicht. Gegenüber dem Ritual der Selbstkritik, wie es in den Moskauer Prozessen der Jahre 1936 bis 1938 praktiziert wurde und zum sicheren Todesurteil führte, ist DDR-mäßige "Erziehung" schlecht und recht als Schrittchen in die richtige Richtung zu bezeichnen, um sich nicht am fetten Speckwort "Fortschritt" zu verschlucken.

Der Berliner Professor Hegel dagegen konnte sich am Fortschritt bekanntlich in Theorie und Praxis sprichwörtlich besaufen. Am 14. Juli fielen seine Vorlesungen jedes Jahr aus - zur Erinnerung an den "herrlichen Sonnenaufgang", als den er die Französische Revolution von 1789 bezeichnete. Statt vorgelesen wurde an diesem Tag ausgiebig gezecht.

Für Kritik und Selbstkritik ist kein Platz, wenn das Vernünftige wirklich und das Wirkliche vernünftig ist. Kritik und Selbstkritik hatten bei Hegel keine gute Presse. Er behandelte sie stiefmütterlich und wie ein längst vergangenes chinesisches Ritual. Am kaiserlichen Hof, berichtet Hegel, war jedem Minister ein Ko-tao, ein Zensor, zugeordnet. Dessen Aufgabe bestand darin, Mandarinen und dem Kaiser Bericht zu erstatten und beide zu kritisieren. Ein Ko-tao soll den Kaiser besonders oft auf Fehler und Versäumnisse aufmerksam gemacht haben. Weil solche Renitenz früher oder später ein kaiserliches Todesurteil provozieren musste, brachte der schlaue Zensor zur absehbar letzten Sitzung in Sachen Kaiserkritik gleich einen Sarg mit, "in dem er begraben sein wollte". Er täuschte sich nicht. Genau darin verließ er den kaiserlichen Palast.

Ein paar Monate nach dem Ende seiner Amtszeit als Präsident sagte Bill Clinton in einem Vortrag: "Ich bin kein Politiker mehr. Ich glaube wirklich, was ich gesagt habe." Solche Selbstkritik ist zugleich herbe Kritik am noch regierenden Personal, das nach Max Weber tagein und tagaus an ganz dicken Brettern herumbohrt - und dies unter dem Fallbeil notorisch tonnenschwerer Verantwortung.

Clintons Selbstkritik und seine Kritik endeten weder stalinistisch-tödlich noch chinesisch-tödlich und auch nicht DDR-mäßig-erzieherisch. Es blieb alles beim Alten. Ist das nun ein "Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit" (Hegel) für Politiker, weiterhin zu schwätzen und zu lügen? Oder "ein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit" für Nicht-mehr-Politiker, "wirklich zu glauben", was sie sagen? Wahrscheinlich ist eingebaute Folgenlosigkeit der Preis für die Freiheit, Kritik und Selbstkritik zu äußern.

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