die wahrheit: meine entzückungsverfügung
Wo ist meine Entzückungsverfügung? Bringt mir meine Entzückungsverfügung! Früh am Morgen werde ich wach, mein erster Gedanke ist: Gleich krieg ich...
Wo ist meine Entzückungsverfügung? Bringt mir meine Entzückungsverfügung! Früh am Morgen werde ich wach, mein erster Gedanke ist: Gleich krieg ich meine Entzückungsverfügung! Ich stehe munter auf, erledige tausend Dinge, alles ohne Entzückungsverfügung. Jetzt kommt sie gleich, sage ich mir immer wieder und halte tapfer durch.
Stunden, endlose, entzückungsverfügungslose Stunden vergehen. Endlich: Sie kommt! Ich bin außer mir, reiße die Tür auf - aber nein, sie ist es nicht. Es ist durchaus lieber Besuch, der da kommt, aber ich hätte ihn doch viel lieber im Besitz meiner Entzückungsverfügung empfangen. Dem Besuch ist es egal, er ist von der Art, dass es ihm sogar egal ist, ob er mich oder jemand anderen besucht. Mit dem strengen, petrochemischen Geruch, den ich zu meinem Kummer an ihm wahrnehmen muss, schafft er vollendete Tatsachen. So wird ab jetzt ausnahmslos alles an diesem Tag riechen, meine Hände, das Essen und der ganze Rest. Es heißt, der Geruch werde nach einiger Zeit abnehmen, vielleicht sogar vergehen. Aber was nützt mir das jetzt?
Hätte ich doch meine Entzückungsverfügung! Wo sie nur bleibt? Ich weiß ganz genau, wenn ich sie hätte, wäre der Besuch noch einmal so schön. Ohne jeden Zweifel wissen wir uns blendend zu unterhalten, aber ohne Entzückungsverfügung ist es einfach nicht das Wahre. Die ganze Zeit warte ich darauf, dass sie endlich kommt. So geht es nicht weiter. Ich muss dauerhaft abgelenkt werden, und das geschieht denn auch mit der folgenden Geschichte:
Ein Mann kann nicht einschlafen. Es treibt ihn schließlich aus dem Bett, und in einer zwanghaften Anwandlung rasiert er sich die Brustbehaarung ab. Danach geht er zu Bett und schläft. Am nächsten Tag, ebenfalls zu einer unsinnigen Uhrzeit, rasiert er seinen Unterleib. Später hätte er nicht angeben können, was ihn dazu brachte.
Merkwürdig ist: Als er sich sein Werk dann im Spiegel ansieht, erblickt er darin einen anderen Körper als den seinen. Jener aber bewegt sich exakt so, wie der Mann es von seinem Spiegelbild erwarten darf, und vermittelt ihm die Illusion, sein eigner welker, ramponierter Leib besitze überraschenderweise eine staunenswerte weibliche Attraktivität. Er kann sich nicht erklären, woher dieselbe so plötzlich rühren mag, hatte er mit seiner Physis doch schon längst abgeschlossen. Trotzdem fragt er nicht lange, sondern nimmt das unverhoffte Geschenk einfach dankbar an.
Hinter alledem steckt ein Dämon im Spiegel. Der gibt dem Mann dann noch etliche weitere Schnapsideen ein, kommt zuletzt aber heraus, tötet den Mann und lebt an dessen Stelle glücklich und zufrieden weiter. Soweit die Geschichte, die mich immerhin so weit zu fesseln vermag, dass ich eine ganze Weile lang darüber nachdenke, was sie wohl bedeuten könnte.
Ich fülle mehrere Originalringbücher aus den Siebzigerjahren mit filzschreibergeschriebenen Spekulationen. Auf eine vernünftige Erklärung komme ich aber trotzdem nicht. Irgendwann wird mir dann wieder schmerzlich bewusst, dass ich ja auf meine Entzückungsverfügung warte. Als sie endlich kommt, werfe ich sie sofort samt dem Besuch in die Mülltonne.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!