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die wahrheitOma Irmels großer Tag

Wenn sich dereinst der Staub über den Trümmern der Krisenwelt gelegt hat, dann wird in den rauchenden Ruinen...

Wenn sich dereinst der Staub über den Trümmern der Krisenwelt gelegt hat, dann wird in den rauchenden Ruinen eine alte Dame aufrecht stehen, die alles ausgelöst hat: Oma Irmel.

Kurz nach ihrem 90. Geburtstag entschloss sich Irmgard S., ein Buch loszuwerden. Zeit hatte sie genug. Die Pflegekraft würde erst zum Abendbrot wieder erscheinen. Sorgsam rüstete sich Oma Irmel mit Mantel und Hut, legte das Buch in ihre Handtasche und die Tasche in den Korb des Rollators. Der Roman war ihr "zu sexuell" oder, wie sie mädchenhaft giggelte, "zu feucht". Dennoch war er den Weg wert. Als Kind hatte sie gelernt, dass man ein Buch nicht wegwarf.

Gut eintausend Meter lagen vor ihr, hin und zurück von der Adlerstraße. Das waren dreitausend Schritte und eine Strecke von anderthalb Stunden. Sie war nicht umsonst sechzig Jahre lang mit einem Mathematiker verheiratet gewesen. Ursprünglich war er Konzertpianist, aber ihr zuliebe hatte er seine Karriere aufgegeben und war Lehrer geworden.

Noch länger war sie nur mit Büchern zusammen. Seit mehr als achtzig Jahren las sie. Sie erinnerte sich noch an ihre Kinderbücher und an den Dreck der Dreißigerjahre. Mit ihrem Verstand war sie auch durch diese Zeit gekommen und in den Fünfzigern aufgeblüht. Sie hatte alles verschlungen von den neuen Frauen aus Amerika. Und als dann in den Siebzigerjahren diese lächerliche Frauenliteratur grassierte, da hatte sie längst erreicht, was dort lediglich eingefordert wurde.

Die Hauptstraße zu überqueren würde nicht leicht werden. Aber dort war bereits das Allkauf zu sehen. Oma Irmel nannte es immer noch "das Allkauf", obwohl der gigantische Supermarkt bereits einige Male den Namen gewechselt hatte. Früher war Oma Irmel "in die Stadt" gegangen. Doch eines Tages wurde die Riesenhalle auf der grünen Wiese gebaut und die Innenstadt verödete. Jetzt würde Allkauf den Preis dafür zahlen.

Erschöpft musste Oma Irmel eine Pause einlegen. Die Ampel war zu schnell auf Rot gesprungen. Ein ungeduldiger Autofahrer hatte sogar gehupt. Oma Irmel suchte in ihrer Handtasche nach einem Erfrischungstuch. Das Buch lag wie ein Sperrriegel da. Sie hatte es unbedingt lesen wollen. Alle Welt sprach darüber. Aber diese Mädchenträume aus dem Unterleib - nein, das war nichts mehr für sie.

Vorsichtig schob Oma Irmel sich und ihren Rollator durch die Flügeltüren. Noch vor den Kassen stand der Grabbeltisch mit den Büchern. Mängelexemplare. Ramsch. Oma Irmel sah sich argwöhnisch um, nahm das Buch aus ihrer Tasche und sortierte es in eine Reihe von Billigbänden ein. Das würde dieser Laden nie verkraften - und mit ihm das ganze Wirtschaftssystem: etwas, das fehl am Platz und umsonst war. Das Buch würde eine anschwellende Welle auslösen, die alles mit sich riss. Zufrieden sog Oma Irmel den Kaffeeduft vom benachbarten Backstand ein. "90 Cent 1 Tasse", verkündete ein rotes Pappschild. Eine Mark achtzig, rechnete sie schockiert und verfluchte ihre eigene, nicht mehr zu heilende Sparwut, die nichts anderes war als Angst vor dem Tod. Doch heute hatte sie der Welt etwas geschenkt. In Oma Irmel stieg ein Gefühl von Freiheit auf. Es war der erste Tag ihres neuen Lebens.

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