die wahrheit: Archiv auf Grundeis
Nach dem Einsturz des Kölner Stadtarchivs muss die Geschichte umgeschrieben werden.
Köln, die Stadt, die mehr Ringe hat als der Saturn und wenigstens an ihren 263 Regentagen noch eine Spur unwirtlicher wirkt, hat Anfang März ihre kollektive Erinnerung verloren. Das alleine ist nichts Ungewöhnliches, schließlich war kurz vorher Karneval und da verliert der Kölner gern einmal kollektiv die Erinnerung, aber diesmal ist auch noch das Stadtarchiv eingestürzt.
In dem schmucklosen Zweckbau an der Severinstraße, in den Siebzigern des vergangenen Jahrhunderts im berüchtigten Kölner Brauhaus-Stil errichtet, lagerten einmalige historische Zeugnisse der lebensfrohen Rheinmetropole, die nicht nur von Archivaren wegen ihres feuchtfröhlichen Klimas gefürchtet wird. Insofern ist es überhaupt ein Wunder, dass so viele Dokumente, oftmals nach landestypischen Brauch auf durchweichtem Bierfilz notiert und anschließend unter den Tresen gekehrt, die Zeitläufte überlebt hatten.
Nun ist vieles unwiederbringlich verloren - auch Teile der kommunalen Parteiarchive sind in Mitleidenschaft gezogen. Entsprechend groß ist die Bestürzung, rühmte man sich doch fraktionsübergreifend der lückenlosen Dokumentierung sämtlicher Korruptionsaffären seit 1208, die in dieser Stadt seit je her als Ausweis höchster politischer Kunstfertigkeit gelten.
Doch wäre der Kölner kein ebensolcher, sondern ein Düsseldorfer, wenn er nicht nach dem Abhalten seiner jahrhundertealten Trauerrituale (Schunkeln, kleine Biere trinken) wieder frohgemut zur Tagesordnung übergehen würde (Schunkeln, kleine Biere trinken), und auch Oberbürgermeister Fritz Schramma verbreitet schon wieder gekonnt Spaß und gute Laune. "Wenigstens haben wir genug Pappmaché für die Wagen der nächsten hundert Rosenmontagszüge", ließ der schnauzbärtige Berufsoptimist mit Hinblick auf die durchweichten Foliantenbestände an der Einsturzstelle verlautbaren.
Dennoch wurde eine schnelle Eingreiftruppe gebildet, die wenigstens die wichtigsten Stücke retten und fachgerecht restaurieren soll. "Wir werden unsere kölsche Vergangenheit wiederauferstehen lassen, und zwar strahlender und schöner als je zuvor", versprach der optimistische Berufsschnäuzer Schramma und benannte umgehend Privatdozent h.c. Günther "Jünni" Klöppner-Krempel zum Leiter der Gruppe "Rettet die Kölner Geschichte" - die beiden kennen sich vom Skat. In einer dem Stadtarchiv gegenüberliegenden Eckkneipe, die wegen Einsturzgefahr und Bierpanscherei vorübergehend gesperrt worden war, präsentiert der unter Raderthaler Heimatforschern weltberühmte Wissenschaftler heute erstmals gerettete Dokumente.
"Hier haben wir den Verbundbrief der Kölner Gaffeln", erklärt der sympatisch-bodenständige Geistesmensch und lässt einen nassgrauen Klumpen auf die Theke klatschen. "In ein paar Tagen ist der wieder wie neu." In dieser legendären Verfassung von 1396 einigten sich die chronisch zerstrittenen Kölner Patrizier und Handwerker, indem per Losverfahren ein gemeinsamer Feind bestimmt wurde. Die Wahl fiel bekanntermaßen auf Düsseldorf.
Aber auch verschollen geglaubte oder der Fachwelt bisher gänzlich unbekannte Dokumente sind unter den geborgenen Konvoluten aufgetaucht. An einer Wäscheleine über der Kegelbahn hängt ein Pergament, bei dem es sich um ein Echtheitszertifikat für die Gebeine der Heiligen Drei Könige handeln soll. "Sie erkennen hier eindeutig die Unterschriften von Gottvater, Sohn und dem Heiligen Geist", erklärt Klöppner-Krempel und warnt: "Nicht anfassen, die Farben sind noch nicht trocken."
Aus Kölns dunkleren Zeiten ist eine Originalhandschrift Adolf Hitlers aufgetaucht, in welcher der Domstadt unbedingte "Weltoffenheit und Toleranz" attestiert wird und Hitler "ein für allemal" feststellt, dass "der Kölner als solcher" mit dem Nationalsozialismus "nie was am Hut" hatte. Unterschrieben ist das Papier mit einem dreifach donnernden "Arsch huh und Zäng ussenander". "Natürlich ist das Dokument echt", pariert Klöppner-Krempel entsprechende Nachfragen und hebt drohend seine imposanten Metzgershände, "Und für Kenner der kölschen Seele keine Überraschung."
An einem Tisch am Fenster stempelt ein Mitarbeiter mittels einer Kölschpfütze Glasränder auf ein Papier, das zuvor von der stets zigarrenbewehrten Hand Klöppner-Krempels daselbst äußerst sorgfältig mit Brandflecken versehen wurde. "Das ist das Originalmanuskript der Rede Wolfgang Niedeckens anlässlich der Verleihung des Friedensnobelpreises", sagt Klöppner-Krempel und grölt ergriffen den berühmt gewordenen Refrain der Rede "Verdamp lang her, dat mich noch jemand ernst nahm."
Aber auch andere Musiker haben ihren Nachlass dem Stadtarchiv anvertraut, erklärt der Archivar. "Wir restaurieren gerade die Karnevalslieder von Karlheinz Stockhausen. Herrlich, dass er auch mal was Schönes geschrieben hat."
Zuletzt präsentiert der wuchtige Archivar gar eine Geburtsurkunde Heinrich Heines, die ihn als waschechten Kölner ausweist. Das sei erst der Anfang, raunt Günther Klöppner-Krempel und seine eisgrauen Schnurrbartspitzen zittern vor Erregung: "Wir sind sehr zuversichtlich, dass wir in den Trümmern noch einen richtig guten Roman von Heinrich Böll finden werden."
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