die wahrheit: Im Jahr des Ochsen: Nachruf auf ein Haus
Am ersten Aprilsonntag war Qingming. Das heißt übersetzt "hell und klar", ist aber so etwas wie der chinesische Totensonntag, auch Grabfegetag genannt...
... An diesem Datum fuhren meine chinesische Familie und ich aufs Land, zur Pflege des Grabes unserer Ahnen. Genau genommen sind es natürlich nicht meine Ahnen, sondern die Eltern meines Schwiegervaters. Doch das spielt keine Rolle, weil ich ja inzwischen auch irgendwie in den großen chinesischen Fortpflanzungsplan eingebaut bin.
Wir fanden das Grab am Rand einer ungeteerten Straße. Es war ein schlichter, von Unkraut zugewucherter Erdkegel. Wir rissen das Kraut raus, häufelten frische Erde auf den Kegel und schmückten ihn mit Blumen. Danach verbrannten wir eine schöne Stange Totengeld und verballerten für genau hundert Euro Kracher. Die Tante breitete ein paar Lebensmittel vor dem Grab aus, murmelte: "Mutter, Vater, wir haben euch Essen mitgebracht", und wir alle verbeugten uns dreimal. Ich dachte: "Die Großeltern werden sich schön wundern, wenn sie wie aus dem Nichts eine lange Nase an ihrem Grab stehen sehen." Anschließend fuhren wir in ein Restaurant zum Essen.
Hier lag eine Zeitung herum, in der ich eine Meldung entdeckte, die mich wie eine Todesanzeige schockte. Gestorben war jedoch kein Mensch, sondern ein Haus: Der Huazi-Turm von Fengjie, eine Art Superbauhaus-Gebäude, das aus zig aneinandergeklebten Betonkuben bestanden hatte, die auf einem dünnen Stiel ruhten und zusammen das Schriftzeichen "Hua" für "Reich" (der Mitte) bildeten. Diesen Turm, der niemals fertiggestellt worden war, hatte ich zum ersten Mal in Jia Zhang Kes großem Film "Still life - die guten Menschen von den drei Schluchten" gesehen. Hier erschien dem Regisseur das Gebäude so irreal, dass er es in seinem ansonsten vollkommen realistischen Film plötzlich wie eine Raumschiff abheben und verschwinden ließ.
Auch ich war von dem Turm sofort begeistert. Um ihn mir anzusehen, fuhr ich vor zwei Jahren extra nach Fengjie, einer Stadt am neuen Drei-Schluchten-Damm. Als ich vor dem grauen Ding stand, konnte ich das, was ich sah, nicht fassen. Der etwa vierzig Meter hohe Bau, der allein auf einem Hügel stand, von wo er auf den Jangtse blickte, war ein architektonisches Wunderwerk, das allen Gesetzen der Statik trotzte.
Ich hatte damals keinen Schimmer, wozu der Turm einmal dienen sollte. Jetzt erfuhr ich aus der Zeitung, dass er als Denkmal für die im Zuge der Flutung des Drei-Schluchten-Damm-Stausees umgesiedelte Bevölkerung gedacht war. Das Wunderwerk war jedoch ohne Baugenehmigung errichtet worden. Deshalb musste es kurz vor der Fertigstellung im November vergangenen Jahres wieder abgerissen werden. Das ist etwa so irrsinnig, als hätte man den Eiffelturm nach der Weltausstellung von 1900 wieder dem Erdboden gleichgemacht. Mich jedenfalls traf die Nachricht vom Verlust des Turms ausgerechnet an Qingming so wie der Tod eines nahen Verwandten. Und ich beschloss, demnächst wieder nach Fengjie zu fahren, um dem verblichenen Huazi-Turms meine Referenz zu erweisen. Nur wann genau? Was in China - aber auch im Rest der Welt - fehlt, ist ein Architekturtrauertag.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt