die wahrheit: Ein Buddha namens Jens
Das Bundesligafinale steht an und hier steht exklusiv, wie das Spiel Bayern gegen Stuttgart ausgehen wird.
München, 23.Mai, 15.30 Uhr. Allianz-Arena. Historische Stunde eines historischen Tages. Horst Köhler schlägt Gesine Schwan 6:1 und gewinnt die Meisterschale - Quatsch. Uli Hoeneß verkündet das Grundgesetz - auch nicht richtig. Der FC Bayern München spielt gegen den VfB Stuttgart. Das spannendste Bundesligafinale seit Einführung der Abseitsregel ist es, was Millionen Menschen vor die Volksempfänger treibt, was plasmabildschirmbestückten Hinterzimmerkneipen Umsatzrekorde beschert und ganz Wolfsburg in grün-weiße Ekstase versetzt. Atemlose Spannung liegt überm Rund der Münchner Allianz-Arena, als die beiden süddeutschen Widersacher einlaufen.
Hier geht es um das ganz große Geld: Mindestens 20 Millionen Euro bringt die direkte Champions-League-Qualifikation. Für die Bayern geht es also um alles, während der VfB schon alle Saisonziele erreicht hat und sich ganz entspannt der Vorbereitung auf das "Match des Jahrhunderts" widmen kann. Dass dabei tief in die Kiste der psychologischen Kriegsführung gegriffen wird, ist klar.
Als einmaligen Sonderservice für unsere Leser dokumentieren wir die schwäbisch-listige Vorbereitung der Stuttgarter, mit der sie dem ewig übermächtigen Gegner Bayern in letzter Sekunde die Tour vermasseln wollen.
Montag, 18. Mai. Der in Schimpf und Schande vom Bayern-Hof verjagte Ex-Trainer und Schwabe Jürgen Klinsmann lässt sich vom VfB als externer Berater verpflichten und bringt sein detailliertes Insiderwissen über den FC Bayern ein. Der sympathische Dauerlächler verrät dem bayrischen VfB-Coach Markus Babbel die beliebtesten Laufwege der Bayern-Spieler und verspricht, am Samstag in Lederhosen auf der Stuttgarter Bank zu sitzen, um so für Verwirrung in München zu sorgen.
Mittwoch, 20. Mai. Lebensgroße Stoffpuppen im Bayern-Dress werden vom VfB-Physiotherapeuten intensiv mit Nadeln gespickt, während Hitzlsperger Verwünschungen in Richtung München schickt. Ob das Wasen-Voodoo Wirkung zeigt, muss sich am Samstag weisen.
Freitag, 22. Mai. VfB-Manager Heldt streut das Gerücht, Franck Ribéry werde in der nächsten Saison für den VfB kicken. Und der von Bayern umworbene Mario Gomez wolle in Stuttgart bleiben, "um in der Champions League spielen zu können".
Samstag, 23. Mai. Das Spiel läuft, und es läuft gut für den VfB Stuttgart. Durch einen Fallrückzieher von Gomez führen die beherzt aufspielenden Schwaben 1:0 - und es sind nur noch wenige Minuten zu spielen. Doch da passiert es: In der 89. Minute holt Ludovic Magnin Luca Toni im Stuttgarter Strafraum von den Beinen - Elfmeter für die Bayern, die ein schon verloren geglaubtes Spiel in ein Unentschieden verwandeln können.
Ribéry holt sich den Ball, legt ihn sorgfältig auf den Elfmeterpunkt. 65.000 Menschen halten den Atem an - nur einer nicht: Jens Lehmann. Der Torhüter des VfB greift zum perfidesten Psychotrick, der je bei einem Elfmeter aufgeführt wurde. Er setzt sich auf die Torlinie, verschränkt die Beine, die Hände ruhen im Zentrum seines Schoßes. Tief und ruhig lässt er den Atem strömen, ein lebender Buddha namens Jens. Der fiebrig flackernde Blick Ribérys verheißt nichts Gutes für die Bayern.
Der Franzose läuft an, schießt - nein, er tritt in die Grasnarbe, trifft den Ball nicht richtig. Das runde Leder kullert wie ein angelutschter Drops geradewegs auf Lehmann zu, der es, ohne seine Buddha-Position aufgeben zu müssen, in Empfang nimmt wie das Geschenk eines demütigen Pilgers. Und während sich lähmendes Entsetzen in den Reihen der Bayern breitmacht, explodiert der Tross der Schwaben in einer Woge aus Begeisterung.
Das Spiel ist aus. Alle Blicke richten sich auf Uli Hoeneß. Wie wird der ehrgeizige Bayern-Manager diese finale Demütigung verarbeiten? Hoeneß greift mit versteinertem Blick in die Jacke seiner roten FCB-Jacke und zieht ein Buch heraus. Die Kameras zoomen es in Großaufnahme heran. Es ist das Grundgesetz, das heute vor 60 Jahren verkündet wurde. Der leidgeprüfte Manager sucht Trost und Rat in der fundamentalen Richtschnur unseres Gemeinwesens, versenkt sich in die allgemeinen Verwaltungsvorschriften. Gewaltenteilung schön und gut, mag es durch den Kopf des sympathischen Bratwurst-Moguls juckeln, aber die Meisterschale ist weg, das schöne Champions-League-Geld ist weg - und Ribéry auch. Wie in Trance trauert er den vergebenen Chancen nach, spukhaft rattern die Schlüsselszenen einer verkorksten Saison an seinem inneren Auge vorbei. Was waren das für Zeiten, scheint er sich zu fragen, als die totale Fußballdiktatur des FC Bayern noch in voller Blüte stand. Doch diese Zeiten sind endgültig vorbei.
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