die wahrheit: Anonyme Fettfrisuren
Geschichten zum Winden. Heute: Die Welt der Haarwaschverweigerer. Dringender Warnhinweis: Personen mit einer niedrigen Ekeltoleranz, einem schwachen Magen...
...oder etwa Halswirbelschäden sollten wegen der hohen Windungsgefahr von der Lektüre dieses Wahrheit-Textes absehen.
Martha streicht sich eine Strähne aus dem Gesicht, von ihrer Spitze ranzt das Fett. Ihre Schultern sind mit feinem Schnee bedeckt, ein Hauch von dermatösem Winter. Kleine Bröckchen rieseln herab. "Seit fünf Wochen nicht gewaschen!", prahlt sie stolz, "Sehen aber noch gut aus, meine Haare! Klasse, dieses Trockenshampoo!" Man hört sie durch den ganzen Salon Heidi krächzen. Viermal im Jahr ist M-Day, dann kommt Martha hierher - wie zum Ölwechsel.
Friseurin Heidi schluckt und streift sich die dicken Handschuhe über. Das wird wieder heftig heute. Martha sinkt in den Stuhl, ihren Kopf umweht ein Duft wie von zehn Fritteusen. Heidi holt noch einmal tief Luft, bevor sie den Umhang umlegt. "Zu viel Wasser ist schlecht für die Kopfhaut!", ruft Martha ihrer Sitznachbarin zu. Dabei hat sie längst eine Epidermis wie aus Echsenleder.
Heidi setzt den Spachtel an und sticht mitten in die steifen Wellen auf Marthas Haupt. Sie zieht die erste Lage geronnenes Fett ab und streift es über den Eimerrand. Jetzt kommen sie gleich wieder aus ihren Nestern, denkt Heidi und zuckt kurz zusammen, als die Milben aufgeregt herausströmen. "Das juckt jetzt aber wieder so", nörgelt es unter dem strähnigen Haupt. Auch die Friseurin juckt es jetzt am ganzen Leib.
Aber sie hat es so gewollt, Heidi ist spezialisiert auf Extremfettfrisuren, Haarwaschverweigerer und Ungezieferbefallene. Egal, wie tief die Ekelgrenze den Haaransatz hinunterrutscht, ihr Salon ist gerüstet. Schon lange ist er Anlaufpunkt für Kopfhautkranke aus ganz Deutschland, Martha ist eine von vielen.
Die Besonderheit an Heidis Salon ist die Verknüpfung mit Psychotherapie durch die angeschlossene Selbsthilfegruppe "Anonyme Fettfrisuren". Alle Kunden haben hier Decknamen: Laus-Klaus, Rastafungus, Eiterkrusten-Jörg oder eben Milben-Martha.
Rastafungus ist ein spezieller Fall. Jahrelang trug der Reggae-Fan, ohne es zu wissen, ein Pilzgeflecht auf seinem Haupt. Er dachte, seine ziehenden Kopfschmerzen kämen vom Hasch, doch dabei grub sich das Mycel immer tiefer in seine Schädeldecke und riss an der Kopfhaut.
Er litt entsetzlich, bis er zu Heidi kam und sie auf Schwammerlsuche ging. Einen ganzen Korb voll erdig riechender Schleimkopfpilze hat sie in seinem aufgetürmten Haardschungel geerntet. Dann erst konnte sie mit einem hochkonzentrierten Fungizid an die Wurzeln allen Übels gehen. Nun kämpft Rastafungus mit den Spätfolgen und der psychischen Belastung.
Ähnlich schwer traf es Eiterkrusten-Jörg. Doch bei ihm war es keine Nachlässigkeit in Sachen Haarpflege, die zur Katastrophe führte. Der Erdkundelehrer wurde Opfer eines völlig aus dem Ruder gelaufenen Experiments seiner Schüler. Diese hatten eine Magmaeruption mit kochender Tomatensoße aus der Schulmensa nachgebaut und tragischerweise zu nah an Jörgs Kopf gezündet.
Seitdem ist sein Schädel mit Verkrustungen, Narben und Eiterbeulen übersät. Doch endlich ist dank Heidis Pflege wieder Haar in Sicht. Einzelne struppige Büschel sprießen schon durch die Kruste.
Man könnte meinen, Laus-Klaus sei da ein vergleichsweise leichter Fall. Doch die aggressiven Japan-Läuse, die er sich in einem fernöstlichen Billigbordell eingefangen hat, sondern ein stark ätzendes und übelriechendes Sekret ab, das Klaus und sein Umfeld immer wieder plagt. Doch auch für ihn hat Heidi mittlerweile Hilfe.
Das von Marthas Kopf gewonnene Milbenschmalz streicht sie ihm immer sachte ins Haar und massiert es ein. Das betäubt die Läuse und lindert die Schmerzen. So hat auch Marthas Leiden letztlich noch etwas Gutes.
Und Martha wird wieder kommen - zwei, drei Monate und fünf Dosen Trockenshampoo später. Dann hat sie neues Fett auf ihrem müden Haupt gehortet. Aber ihre Haare werden immer noch glänzend aussehen. Sie geht ja schließlich auch nur zum Friseur, um den neusten Klatsch zu erfahren. Heidis Eimer ist inzwischen randvoll mit Schmalz und Martha mit der Föhnfritteuse aufgehübscht. Jetzt ist Zeit für einen Snack. Von Rastafungus letzter Ernte müsste noch was übrig sein.
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