die wahrheit: Mein Freund, der Sammler
Seit je habe ich ein blendendes Verhältnis zu Sammlern...
...Der Grund dafür ist wahrscheinlich Onkel Johnny, der gar nicht mein Onkel war, aber im Nachbarhaus wohnte und mit großer Leidenschaft Kronkorken sammelte, als ich noch mit dem Dreirad durchs Viertel karriolte. Er war unentwegt auf der Jagd, spähte in jeden Gullydeckel und durchstöberte beinahe täglich die Abfalleimer im Hauptbahnhof. Fast vierzig Jahre lang war er als Matrose über die sieben Meere geschippert und hatte in allen Rinnsteinen von Bombay, Mombasa, San Francisco und Guayaquil nach Flaschenverschlüssen gestöbert. Die Sammlung, die er dabei zusammengetragen hatte, war umwerfend: Ich besuchte ihn oft, bestaunte seine Schätze und war entschlossen, mein Leben ebenfalls dem Matrosenberuf zu widmen und in den unzugänglichen Winkeln der großen Hafenstädte nach seltenen Stöpseln zu suchen.
Es hat nicht so kommen sollen; zumindest aber ist einer meiner engsten Freunde ebenfalls ein besessener Sammler. Anders als Onkel Johnny sammelt Rob jedoch nichts Spezielles - weder Fahrkarten der belgischen Staatsbahn oder Kofferradios der Sechzigerjahre. Er sammelt vielmehr alles - und wenn ich "alles" schreibe, dann meine ich das auch so. Er sammelt leere Gurkengläser, stumpf gewordene Kartoffelschäler und Socken, die Löcher haben, in Notzeiten aber gestopft werden könnten.
"Mensch, Rob", sagte ich einmal und zeigte auf die alten Zeitungen, die sich bei ihm bis unter die Decke stapeln: "Eines Tages kippt einer dieser Türme um und begräbt dich unter sich. Eingeklemmt und bewegungsunfähig wirst du jämmerlich verhungern!" - "Quatsch, die stehen bombenfest!", erwiderte Rob und gab einer der Säulen einen Stoß. Die Säule schwankte, fiel aber nicht, und so brauchte nur ich medizinische Hilfe, da ich ängstlich die Arme hochgerissen und mir dabei einen Brustwirbel ausgerenkt hatte.
Genauso bestaunenswert ist der sichere Instinkt, mit dem er etwas Bestimmtes in all dem Gerümpel aufzuspüren vermag. Ganz gleich, ob er einen einzelnen braunen Schnürsenkel, ein noch brauchbares Passbild oder den U-Bahn-Plan von Madrid sucht, den er 1985 von einer Inter-Rail-Tour mitgebracht hat - stets greift er zielsicher nach irgendeiner Kiste und fördert das Gesuchte zu Tage. "Unglaublich", sage ich, denn ich brauche locker zwei Stunden, wenn ich in meinem aufgeräumten Arbeitszimmer zum Beispiel nach meinem Impfpass suche.
Trotz allem könnte mein prächtiges Verhältnis zu Sammlern im Allgemeinen und zu Rob im Besonderen bald ernstlich bedroht werden. "Übrigens", sagte er gestern ganz nebenbei, "ich kann eine größere Wohnung kriegen. Hilfst du mir beim Umzug - Samstag in drei Wochen?" - "Uh … äh … sicher …", stotterte ich und nickte. Seitdem hadere ich damit, dass mir nie eine Ausrede einfällt, wenn ich auf die Schnelle eine brauche. Also werde selbstverständlich ich der einzige von Robs vielen Freunden sein, der nicht ausgerechnet am Umzugstag zur Hochzeit eines Cousins nach Bad Oeynhausen reisen muss.
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