die wahrheit: Abbeißen, schlucken, abbeißen, schlucken
Es sagt viel über den kulinarischen Zustand eines Landes aus, dessen Glanzlicht das Hochgeschwindigkeitsverschlingen einer glibbrigen Rindfleischkartoffelmasse im Teigmantel ist...
... Zum Jahresende finden im englischen Wigan bei Manchester stets die Weltmeisterschaften im Pastetenessen statt. Da sich diese Sportart weltweit noch nicht durchgesetzt hat, stammen sämtliche Teilnehmer aus England, die meisten aus Wigan.
In der Dramatik kann sich der Wettbewerb jedoch allemal mit bekannteren Sportereignissen wie den Olympischen Spielen messen. Bei beiden gehören Boykott, Protest und Doping dazu. Tony Callaghan, der Besitzer von Harrys Bar in Wigan, wo der Pastetenwettbewerb vor zwei Wochen ausgefochten wurde, legte beim Pastetenverband Beschwerde ein, weil "fremdländische Ware" aufgetischt wurde. Sie stammte nicht aus Wigan, wie in den vergangenen Jahren, sondern aus Adlington, dem Nachbarort. Obendrein waren die Pasteten mit zwölf Zentimeter Durchmesser größer als die Erzeugnisse aus Wigan, mit denen die Favoriten wochenlang trainiert hatten.
Die einzige Teilnehmerin am Finale, Julie Walsh, verließ die Wettkampfstätte deshalb unter Protest. "Es gibt nun mal Prinzipien", sagte sie, "bei denen man keine Kompromisse eingehen kann." Sie hatte gehofft, als erste Frau den Titel zu gewinnen: "Ich esse normalerweise nicht so grobschlächtig wie Männer, aber ich hätte mich für den großen Augenblick hochputschen können." So gewann diesmal ein Außenseiter. Barry Rigby, der vorher noch nie an dem Wettbewerb teilgenommen hatte, würgte die ortsfremde Pastete in 43 Sekunden herunter. Danach verriet er das Geheimnis seines Erfolgs: "Die Grundregel ist: abbeißen, schlucken, abbeißen, schlucken, während man durch die Nase atmet." Da im vorigen Jahr Dopingvorwürfe aufgekommen waren, verhängten die Organisatoren ein Soßenverbot. Einige Teilnehmer sollen der Soße Hustensaft beigemischt haben, damit die Mürbeteigmonster besser in den Magen rutschten.
In Wigan ist man stolz auf den Titel als Pastetenhauptstadt - völlig grundlos, denn ihren Spitznamen "pie-eaters" verdanken die Bewohner von Wigan der Tatsache, dass ihre Kumpel vor rund neunzig Jahren einen landesweiten Bergarbeiterstreik gebrochen haben. Fortan beschuldigte man sie, "humble pie" gegessen zu haben, was bedeutet, dass sie zu Kreuze gekrochen sind.
Die Regeln für den Pastetenwettbewerb wurden vor drei Jahren auf Druck der Regierung geändert, weil sie der Fettleibigkeit in England entgegenwirken wollte. Bis dahin mussten innerhalb einer bestimmten Zeit möglichst viele Pasteten verschlungen werden. Nun geht es darum, eine einzige Pastete in möglichst kurzer Zeit zu vertilgen. Das sei in Anbetracht der Rezession ein Fehler, findet Callaghan: Wenn jeder zwei statt einer Pastete äße, würde sich der Pastetenumsatz verdoppeln.
Es ist nicht gut um ein Land bestellt, dessen wirtschaftliche Zukunft vom Verspeisen matschigen Rindfleischs im Teigmantel abhängt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Mangelnde Wirtschaftlichkeit
Pumpspeicher kommt doch nicht
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl