die wahrheit: Erlebnispark Suhrkamp
Wie die Stadt Frankfurt das Erbe eines großen Verlags pflegt.
So viel Ende war nie. Die letzten Kartons sind gepackt, die Porträtfotos von Beckett, Brecht, Hesse, Frisch und Kafka von den Wänden genommen, die Kugelköpfe aus den Schreibmaschinen, die Wählscheiben von den Telefonen geschraubt - der Umzug des traditionsreichen Suhrkamp-Verlags von Frankfurt am Main nach Berlin bei Polen ist abgeschlossen. Schon Anfang Januar sollen in der neuen Verlagszentrale im Prenzlauer Berg erste Bestseller lektoriert werden, allerdings fehlt es noch an geeigneten Manuskripten. "Wir suchen Menschen, die gerne schreiben", sagt Verlagschefin Ulla Unseld-Berkéwicz. "Und falls Sie, wie ich, einen esoterischen Judenfimmel haben - um so besser, wir drucken das weg!"
Ziel des Umzugs sei es, so die rührige Verlegerin, in Berlin-Mitte die Gentrifizierung weiter voranzutreiben, gleichzeitig aber auch jede Menge Lohnkosten einzusparen, da man in der Hartz-IV-Hauptstadt bekanntlich weniger bezahlen müsse als anderswo. Außerdem geht nur etwa die Hälfte der einhundertzwanzig Verlagsleute mit nach Berlin. Die Zurückgebliebenen wurden von Ulla Unseld als unverkäufliche Mängelexemplare eingestuft; sie sollen der Sekundärrohstoffgewinnung zugeführt und nach und nach eingestampft werden.
In Sicherheit gebracht wurde auch das legendäre Suhrkamp-Archiv, es gilt als das eigentliche Kapital des Verlags. In kilometerlangen Güterzügen wurde der Hausschatz nach Marbach verschafft, ein jede menschliche Vorstellungskraft überschreitender Stapel unverlangt eingesandter Manuskripte. Er ist der einzige Manuskriptstapel, den man auch noch vom Mond aus mit bloßem Auge lesen kann.
Immerhin behält Frankfurt die mittlerweile so genannte "Villa Unseld". Das ehemalige Wohnhaus des Jahrtausendverlegers in der Klettenbergstraße erwies sich als zu schwer, als nicht transportierbar. Nun soll es weiterhin genutzt und mindestens einmal im Jahr, zur Buchmessenzeit, für den berühmten "Schnorrerempfang" geöffnet werden, bei dem Literaturkenner und Autoren im Allgemeinen unerwünscht sind. Dort soll auch am letzten Tag der Messe regelmäßig ein "Ulla-Unseld-Ähnlichkeitswettbewerb" stattfinden. Bereits jetzt sind Joy Fleming, Claudia Roth und Cindy aus Marzahn als spektakuläre Außenseiterkandidatinnen gesetzt.
Was aber soll aus dem Verlagsgebäude werden, dem großen Betonkasten im Frankfurter Westend? Eine preiswert erstellte Machbarkeitsstudie des Kulturdezernenten Felix Semmelroth sieht vor, das Gebäude mit der berühmten Adresse Lindenstraße 29 völlig neu zu vermarkten, und zwar unter dem schmissigen Titel "Erlebnispark NDL", wobei "NDL" für Neuere Deutsche Literatur steht und "Erlebnispark" für Erlebnispark.
Am Eingang werden die Besucher gelbe Büchertransportkisten besteigen, um auf einer vollautomatischen Bandstraße durch die langen, düsteren Verlagsflure gekarrt zu werden. Was wird sie erwarten? Ka-wumms! Und wuppdich! Links und rechts öffnen sich plötzlich Bürotüren, aus denen täuschend echte Autorenpuppen ihre Schwellköpp strecken. Da ruft Max Frisch: "Mein Name sei Gantenbein!" Und Wolfgang Koeppen keift: "Ich bin gleich fertig mit dem Manuskript."
"Die Besucher sollen so die Gelegenheit haben, die einmalige Suhrkamp-Kultur sensuell zu erleben", erklärt der Kulturdezernent mit sichtlichem Stolz. "Eine Art Geisterbahn mit höchstem literarischen Anspruch." An verschiedenen "Ereignisstationen" könne der Suhrkamp-Fan zum Beispiel eine freundlich lächelnde Thomas-Bernhard-Puppe mit fünfstelligen Vorschusssummen füttern, jede Zahlung wird von dem österreichischen Großschimpfer mit einer charmanten Äußerung quittiert: "Sie unerträglicher Geizhals", wird da zu hören sein, oder "Ist das alles, Sie Kretin?" Oder einfach nur: "Vergelts Gott, Faschist."
Kleine Stopps am Kaffeeautomaten oder am Wasserdispenser sollen die mehrstündige "Hochlitera-Tour" (Semmelroth) abrunden; auf die Lesehungrigen warten in der Kantine dann schon "Siegfrieds Kracauer", das Sparmenü "Enzensburger mit mittleren Pommes", für die Schlemmerfreunde gibts "Adolfs Muschgeln in Weißwein" oder, man isst schließlich in Frankfurt, "Peter Handkäs mit Musik".
Das Rauchen ist freilich im ganzen Gebäude untersagt - außer im "Ingeborg Bachmann Saal", wo mehrere Betten mit feuerfester Bettwäsche den Besucher auf einen gemütlichen "Glimmstengel" (M. Frisch) einladen. Auf die Literaturbetriebsfeuerwehr wird man da allerdings vergeblich warten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste