die wahrheit: Fragen Sie Reich-Ranicki
Was ist wirklich dran an dem Roman "Axolotl Roadkill"?
![](https://taz.de/picture/321839/14/10-02-09-WahrheitRanicki.jpg)
Es wird gegenwärtig sehr viel über den Roman "Axolotl Roadkill" von Helene Hegemann diskutiert. Sollte man ihn gelesen haben? Ich frage mich das, weil ich an Literatur interessiert bin und auch selber schon den einen oder anderen "Schreibversuch" unternommen habe. Andererseits möchte ich mir meinen Appetit aber auch nicht mit ungenießbarer Lesekost verderben.
Günter Grass, Kalkutta
Marcel Reich-Ranicki: Dazu will ich zunächst bemerken, dass es in der Literatur schon immer zu unterscheiden galt zwischen guten, lesenswerten, anspruchsvollen Werken, die sich eines dauerhaften Zuspruchs erfreuen, und daneben schlechten, trivialen, langweiligen Machwerken, die sich vielleicht eine Zeitlang recht gut verkaufen, aber dem kritischen Urteil der Nachwelt nicht standhalten. Dies trifft sowohl auf Romane, Erzählungen und Novellen zu als auch auf Dramen und Gedichte.
Ich nenne, stellvertretend für viele andere, hier nur die Namen Goethe, Schiller, Heine, Dickens, Dostojewski, Tolstoi, Flaubert, James Joyce, Samuel Beckett, Franz Kafka, Ulla Hahn und Thomas Mann auf der einen Seite und auf der anderen heute zu Recht vergessene Autoren wie Pirnitzer, Wolinsky, Trettenbach, Firnecker, Dohlemann, Burdacher, Mocksch und Hans Frettl. Sie können diese beiden literarischen Ahnenreihen beliebig erweitern und werden in jedem einzelnen Fall die Wahrheit meiner These bestätigt finden.
Es mag uns zwar beklagenswert erscheinen, dass selbst so bedeutende Erzähler wie Hsüan Yildiz, Udo Wurlemmer und Wilhelm Raabe in unseren Tagen im Abseits stehen, aber daran ist nun einmal nichts zu ändern.
Umso erfreulicher scheint mir der Umstand zu sein, dass der große Romancier Theodor Fontane (1819-1889) jetzt sogar in Kenia eine Renaissance erlebt und dort besonders von jungen, bildungshungrigen Leuten wieder gern gelesen wird. Sein Roman "Effi Briest", der uns das bittere Los einer Frau nahebringt, wird zurzeit auch gänzlich neu ins Koreanische übersetzt. Von eminenter Bedeutung sind und bleiben aber auch die "Wanderungen durch die Mark Brandenburg".
Wieder etwas anders ist es um den Nachruhm jener Autoren bestellt, die sich in den romanischen Sprachen Verdienste erworben haben. Zu verweisen wäre jedoch auch auf das erstaunliche Echo, das die Lyrik Eichendorffs in der modernen ägyptischen Literatur hervorgerufen hat, vergleichbar nur mit der Begeisterung für die Gedichte Ingeborg Bachmanns in so unterschiedlichen Ländern wie Honduras und Baden-Württemberg.
Diese und andere, aber auch ganz ähnliche Erfahrungen haben schon viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen gemacht, von Shakespeare über Mörike und Hölderlin bis hin zu den großen amerikanischen Erzählern, von denen ich an dieser Stelle nur John Steinbeck, Thomas Wolfe, William Faulkner und Philip Roth aufzählen will.
Was nun die aktuelle Debatte über die junge Frau Hegemaus betrifft, so gestehe ich freimütig, dass ich ihr Buch "Axolotl Roadkill" noch nicht gelesen habe. Wie Sie vielleicht wissen, muss ich jeden Tag achtzehn bis zwanzig Stunden lang telefonieren und mir die übrige Zeit höchst genau einteilen, zumal ich jetzt die ehrenhafte Aufgabe übernommen habe, einen Kanon herausragender chilenischer Hörspiele der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zusammenzustellen, ganz zu schweigen von meiner ehrenamtlichen Tätigkeit als Synchronsprecher eines Lindwurms in einer Produktion der Augsburger Puppenkiste.
Unvollständig wäre meine Antwort freilich, wenn ich hier nicht dazu einlüde, den Dichter Peter Huchel neu zu entdecken. Und auch in Frankreich, Skandinavien und selbst in Afrika gibt es vergleichbare Dichterschicksale; denken Sie nur an die großen Russen: Tolstoi, Dostojewski, Turgenjew, Gogol. Oder auch an die flämischen, rumänischen, mexikanischen und thailändischen Novellisten, deren namentliche Aufzählung ich mir ersparen möchte.
Nur ein Name sei an dieser Stelle noch genannt: Uwe Johnson. Aber das ist ein weites Feld. Zu erinnern wäre bei anderer Gelegenheit auch an Heinrich von Kleist, Alfred Döblin, Gustav Freytag, Herbert Schnake, Otto Giesekanne, Heinrich Böll sowie alle Literaturpreisempfänger und/oder -juroren, die Marcel Reich-Ranicki heißen.
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