die wahrheit: Das Atmen in den Häuschen
Im Keller meines Hauses traf ich einen älteren Herrn, der mir ganz unbekannt war …
Im Keller meines Hauses traf ich einen älteren Herrn, der mir ganz unbekannt war. Wir grüßten einander höflich, bevor ich ihn jedoch nach seiner Identität und dem Grund seiner Anwesenheit fragen konnte, sprach der Mann in ernstem Tonfall: "Es gibt ein Problem. Ich möchte Sie bitten, es sich anzusehen."
"Wenn es etwas nützt", meinte ich und folgte ihm in den Raum neben der Waschküche. Als ich zuletzt hineingeschaut hatte, war nur Staub darin gewesen, nun stand da eine riesige aufgebockte Platte, angefüllt mit winzigen Gleisen, Zügen, Häusern, Bäumen et cetera. Es musste wochenlang gedauert haben, das alles zu installieren - und ich hatte nichts davon mitbekommen! Verblüfft lobte ich die große Arbeitsleistung sowie das ansprechende Ergebnis.
Das Problem ergab sich, nach den Worten des älteren Herrn, durch ungefähr zwei Dutzend einstöckiger Häuschen am Rande der Anlage. Dicht gedrängt beieinander stehend, erweckten sie schon einen seltsamen Eindruck. Wahrscheinlich würden die Wenigsten ihre Miniaturlandschaften mit so etwas garnieren. Weshalb hatte dieser Mann es bloß getan? Es war doch kein Wunder, dass ihm das nun nicht gefiel. Ich konnte mir nicht erklären, weshalb er so ratlos war und meine Hilfe suchte. Aber wenn er meine Meinung unbedingt hören wollte, sagte ich sie ihm auch. Ohne Umschweife riet ich ihm, die unschöne kleine Siedlung einfach zu entfernen. "Ja, was glauben Sie denn, wie oft ich das schon getan habe!", rief er. "Aber sie kommen jedes Mal wieder!"
Ich staunte. Falls der Mann kein Lügner oder Wahnsinniger war, ging hier etwas ganz und gar Außergewöhnliches vor sich. "Wenn etwas nicht zu ändern ist", sagte ich schließlich altklug, "sollte man sich damit arrangieren. Ich meine, die Häuschen stören ja nicht wirklich?"
"Drinnen wird geatmet!", widersprach der Modelleisenbahner. Geatmet? Hatte ich richtig gehört? "Jawohl", bestätigte er, "man kann es hörbar machen." Im nächsten Augenblick hatte er ein an einen kleinen Verstärker angeschlossenes Mikrofon in der Hand und hielt es dicht über die kleinen Häuser. "Seien Sie ganz still", wies er mich an, "und hören Sie genau hin!"
Ich hielt die Luft an und lauschte. Es dauerte ein paar Sekunden, dann vernahm ich aus dem Lautsprecher des Verstärkers regelmäßige Atemzüge. Mir macht man allerdings nicht so leicht etwas vor, und ich äußerte skeptisch, es bestehe durchaus die Möglichkeit, dass es sich bei den Atemgeräuschen um eine in diesem Moment abgespielte Aufnahme handeln könne, während das Mikrofon in Wirklichkeit überhaupt keine Funktion habe. "Ich müsste das mit einer eigenen Verstärkeranlage überprüfen", sagte ich. Der ältere Herr schien nicht begeistert, stimmte aber einem künftigen Versuch zu, dessen Anordnung ich vornehmen wollte. In solchem Sinne gingen wir auseinander.
Am nächsten Tag las ich in der Lokalzeitung eine Warnung vor Trickbetrügern, die haargenau so vorgingen wie der Mann in meinem Keller. Ich habe ihn und seine Modelleisenbahn-Anlage dort nie wieder angetroffen.
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