die wahrheit: Abenteuer in Unkel
Eine Rückführung in ein vergangenes Leben wollte ich machen, so war es mit der besten Freundin Johanna schon seit Wochen besprochen. Ich nämlich glaubte nicht an so etwas, sie aber schon.
Also war es nur folgerichtig, dass ich es war, die sich auf die esoterische Reise begeben sollte, denn Johanna hätte mir ja sonst was vorflunkern können. "Auf nach Unkel!", jubelten wir, denn im rheinland-pfälzischen Unkel sollte das Abenteuer stattfinden.
"Das Rotweinstädtchen am Rhein" hatten wir uns ausgesucht, weil es im Internet hübsch aussah und über einen professionellen Rückführer verfügt. Dort wollten wir - bei schönstem Sommerwetter, wie wir hofften - in vergangene Leben reisen und ein rauschendes Weinfest nach dem anderen feiern.
Bei unserer Ankunft Ende August erwartete uns strömender Dauerregen, der auch in den kommenden Tagen nur selten von gewaltigen Gewittern unterbrochen werden sollte - ansonsten wirkte Unkel wie ausgestorben. Den Abend vor der Rückführung verbrachten wir als einzige Touristen in einem der wenigen Lokale, die geöffnet hatten. "Zu welcher Zeit ist denn in Unkel mal etwas los?", fragten wir den freundlichen Ober, der uns verständnislos ansah. "Also, zu welcher Jahreszeit brummt es hier mal so richtig?", spezifizierten wir unsere Anfrage, was den Ober zu einem gigantischen Lachanfall veranlasste. "Äh, also im Hochsommer sind doch sicher mehr Touristen hier?", starteten wir einen letzten Versuch. "Im Hochsommer hat hier alles geschlossen", gluckste der junge Mann vergnügt und betrachtete uns wie seltene Insekten.
Nach ein paar Gläsern regionsfremden Weines ("Der örtliche Winzer ist zu unzuverlässig") zogen wir uns in unsere Kemenaten zurück, um uns angemessen auf die bevorstehende Seelenreise vorzubereiten, denn so etwas macht man ja nicht alle Tage.
Etwas skeptisch, aber für jede Erfahrung offen, fand ich mich also anderntags pünktlich beim Rückführer ein. Der freundliche Mann nahm sich sehr viel Zeit, um mir seine Vorgehensweise zu erklären, die hier wiederzugeben den Rahmen sprengen würde - und tatsächlich gelang es ihm, mich in den notwendigen "Alphazustand" zu versetzen und in ein früheres Leben zu führen. Was ich allerdings sah, war kläglich. Ich war weder ein Burgfräulein noch Kleopatra, nicht einmal eine Hexe oder ein Feldherr, ich war … - beinahe schäme ich mich, es niederzuschreiben -, ich war am Ende eines grottenlangweiligen, unspektakulären 08/15-Lebens im 19. Jahrhundert eine altjüngferliche, mäßig beliebte Handarbeitslehrerin an einem Mädcheninternat für höhere Töchter. Sosehr der Rückführer auch fragte und suchte, es gab in dem gezeigten Leben einfach nichts Spannendes und keinen Höhepunkt.
"Na, das war ja nicht sehr ergiebig", resümierte er am Ende der vierstündigen Sitzung, und beinahe vermeinte ich, den Hauch einer Enttäuschung in seiner Stimme zu erkennen, aber es war wohl eher Mitleid. Sicher hat der Mann in seiner gesammelten Praxiserfahrung noch niemals einen Klienten in ein derart erbärmliches und wüstenödes Leben zurückgeführt, wie das mir präsentierte eines war. Ich war trotzdem zufrieden, denn ich hatte nicht damit gerechnet, überhaupt etwas zu sehen.
Auf dem Weg zurück in den Unkeler Ortskern begegneten Johanna und ich einer pechschwarzen Katze. Überwältigt von diesem Zusammentreffen streichelte und koste ich das Tier herzlich, das auch schnurrend Köpfchen gab, mir um die Beine strich und alles tat, was man von einem Kätzchen erwartet - bis es sich plötzlich und unerwartet mit einem wilden Schrei auf mein Bein stürzte und hineinbiss, bis das Blut hervorspritzte. War das Biest womöglich in meinem vergangenen Leben eine meiner Handarbeitsschülerinnen gewesen und hatte mich soeben erkannt?
Diese Geschichte musste ich den herbeieilenden Unkelern wieder und wieder in den schillerndsten Farben schildern, es war das Aufregendste, was das Rotweinstädtchen am Rhein in seiner gesamten Geschichte jemals erlebt hatte, und ich kam damit vermutlich auf Seite eins des lokalen Unkeler Anzeigers. Wenn es den überhaupt gibt.
Aber die nächste Rückführung mache ich dann lieber in Las Vegas.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Fußball-WM 2034
FIFA für Saudi-Arabien
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen