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die wahrheitVom Rasenmäher verwöhnt

Eingedenk des verflossenen Zwo-zehn würde ich stoßseufzend samt einem Trauerkloß im Hals die private Klagemauer mithilfe eines Jammerlappens blankwischen...

... Ab mit dir, du fieses altes Jahr! Doch ich fürchte, nach Einleitungen wie dieser zögern selbst wohlgesinnte Leser, die Lektüre fortzusetzen. Ginge mir ähnlich. Deshalb sei sofort die geballte Metaphorik abgebrochen. Zugleich versuche ich die Stimmung aufzuhellen. Wie wäre es hiermit?

Jacobi, seines Zeichens Kupferstecher und Zuckerbäcker, schwebte mir des Sonntags freudestrahlend entgegen. Vielmehr: Unsere schneematschigen Wege kreuzten sich zufällig dort, wo die Zwinglistraße auf die Lutherstraße stößt. Protestantisches Betriebsgelände gewissermaßen. Es platzte aus Jacobi heraus. Mit größtem Vergnügen habe er in dem letzten der Nullerjahre erfolgreich ein Soll erfüllt. "Was für ein Soll?", fragte ich halbwegs neugierig. Es stellte sich heraus, dass er sich den Werbetext für ein Duschgel namens "Dove Men+Care" als Leitfaden zu eigen gemacht hatte. Auswendig zitierte er: "Frau verwöhnt, Kinder belustigt, Rasen gemäht … Jetzt ist meine Haut dran!"

Auf der Stelle flüsterte mir ein spießiger Satan folgende Variante zu: Sobald Jacobi die Aufgaben abgehakt hatte, suchte er seine Geliebte auf, die ihn nach allen Regeln der Leibesübungskunst zu verwöhnen verstand. Ich verschwieg diese Kapriole, weil mir schwante, ein pfiffiger Analytiker würde ihn umdeuten: "Weniger stellt sich die Frage, was Ihnen in den Sinn prescht, sondern: warum gerade dies?" Obendrein entstieg meiner verheerend lebhaften Einbildungskraftquelle ein Mann, der seine Frau verwöhnt, indem er ein Hektar Rasen mäht, was die Kinder belustigt. Mea culpa! Indes stand Jacobi im redlichen Einklang mit dem Anforderungsprofil, dem ein Familienvater in höheren Kreisen lustvoll entspricht, um schließlich ein Duschbad zu nehmen.

Anschließend vermutete ich, im Nu intellektuell reifer geworden, in der Reklame eine Nussschale, in der ein aktuelles Männerbild in Gänze Platz findet. Welche Erkenntnis! Jacobi wiederum erwähnte, die Seite gescannt und als Hintergrund für sein Desktop eingerichtet zu haben, um den obligaten Anfechtungen zu trotzen. Noch am selben Tag mailte er mir die Datei.

Statt das Szenario im Sinne einer Sozialpsychologie des Alltagslebens zu erforschen; statt dem Fotomodell abzukucken, was ich zu trainieren hätte, blieb der Panoramablick an einem vorgetäuschten Fachausdruck haften. Die Wirkung dieses magischen Duschgels nämlich ist einer "Technologie" zu verdanken, und zwar der mit Warenzeichen ausgerüsteten "Micromoisture Technologie". Mikroskopische Feuchtigkeit. So, so.

Jäh benetzten Tränen meine Augen - so nannte es Clemens Brentano poetisch, als er vorbeikam, um meinen Rasenmäher zu leihen. Als Gegengabe bat ich um zwei weitere Verse. Intuitiv trug er vor: "Ich möchte die Gestirne zählen / Du findst die Welt in einer Nuss". Diese dumme Nuss ist groß genug, dass wir alle darin Unrecht haben können.

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