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die wahrheitOnkel Eugens Ohrensessel

Zu meinen besonderen Leidenschaften hat Schach nie gehört. Zu wenig Torraumszenen, zu wenig Fangesänge.

Im Alter von ungefähr dreizehn Jahren spielte ich jeden Tag nach der Schule eine Partie Schach mit einem Nachbarsjungen. Das erste Spiel verlor ich per Schäferzug, was mit Abstand die dümmste Art ist, sich matt setzen zu lassen: Man hat verloren, bevor man richtig losgelegt hat, und kuckt ähnlich intelligent aus der Wäsche wie ein Temposünder auf einem Blitzomatenfoto der Verkehrspolizei. Am nächsten Tag verlor ich nicht mehr durch Schäferzug, aber ich verlor. Genauso wie am folgenden Tag, in der folgenden Woche, Monat für Monat. Nach einem Jahr erreichte ich zum ersten Mal ein Remis. Danach legte ich die Figuren für immer aus der Hand. Denn mehr konnte ich in diesem Leben im Schach nicht erreichen.

Raimunds Verhältnis zum Schach sah bisher nicht anders aus. "Die langweilen sich doch krumm!", flüsterte er mir einmal zu, als er zwei Schachspieler im Café Gum beobachtete, und einmal rief er sogar den Notarzt, weil er meinte, dass zwei über das Brett gebeugte Männer seit Minuten nicht mehr geatmet hätten und dringend wiederbelebt werden müssten.

Plötzlich aber war alles anders, denn seit neuestem war er Eigentümer des legendären Ohrensessels von Mathildas nicht minder legendärem Onkel Eugen. Der war vor kurzem gestorben und hatte jahrzehntelang als Schachgenie der Extraklasse gegolten. "In diesem Sessel", murmelte Raimund ehrfürchtig, "hat er das Eugen-Klapproth-Gambit erfunden und reihenweise Großmeister in Grund und Boden gespielt." Dass er es nie zu Ruhm und Titeln gebracht hatte, lag letztlich daran, dass er - geniegemäß plemplem - das Haus nie verließ, da er sich vor erdmagnetischen Verwirbelungen fürchtete, die seiner Meinung nach überall in der Außenwelt lauerten und ihm die Hirnströme kurzschließen würden. "Aber ich", hauchte Raimund, "werde für ihn weiterspielen und die Eugen-Klapproth-Genie-Nachfolge antreten!"

Mit diesen Worten zog er ein Schachspiel aus dem Regal und ließ sich von meiner energischen Weigerung nicht beirren. Er drückte mich auf einen Stuhl, nahm selber in dem Sessel gegenüber Platz und sagte: "Los, du beginnst!" Ich seufzte und bewegte einen Bauern. "Ah!", sagte Raimund: "Ich spüre genau, wie Klapproth mir die Hand führt!" Er beugte sich wie in Trance nach vorne und machte einen Zug. Nach zehn Minuten indes hatte ich unversehens gewonnen. "Äh, matt …", sagte ich verblüfft. "Donnerschlag", sagte Raimund, "das gibts doch nicht!"

Er baute die Figuren wieder in der Ausgangsstellung auf, aber nach knapp einer Viertelstunde hatte ich - ohne zu wissen, warum - schon wieder gewonnen. "Ist doch unmöglich!", raunzte Raimund, doch so oft er die Figuren auch aufstellte, immer setzte ich ihn nach wenigen Minuten matt, und erst als wir einige Monate später zufällig erfuhren, dass in Eugen Klapproths legendärem Sessel niemals er selber, sondern immer nur seine Gegner gesessen hatten, wurde uns so manches klar.

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