die wahrheit: Gott ist Zigaretten holen
Wenn die eigene Mutter in die Demenz abrutscht und ins Heim muss, hält sich die Komik dieses Vorgangs, gelinde gesagt, in Grenzen...
...Mal abgesehen von den kleinen absurden Momenten, wenn Muttchen zum Beispiel berichtet, dass sie am Vormittag "weg" gewesen sei. "Wo warst du denn?", fragt man interessiert nach und erwartet eine Antwort wie: "Bei der Krankengymnastik" oder: "Zum Kartenspielen im Speisesaal". Sie aber sagt bestimmt: "In Palästina!" - "Aha", nickt man und versucht sich nichts anmerken zu lassen. "Und was hast du in Palästina gemacht?" Sie denkt kurz nach. "Nix, ich war da so. Mit ein paar Leuten." - "Und zum Mittagessen warst du wieder hier?" - "Klar, was denn sonst? Es gab doch Würstchen!" Und obwohl man es erst nicht will, muss man dann doch lachen. Und vermutlich ist das in Ordnung, aber wer weiß das schon …
Ansonsten ist man vor allem verblüfft, dass im menschlichen Gehirn bestimmt Areale genauso gelöscht werden können wie auf einer Computerfestplatte. So erinnert sich meine Mutter an ihre Kindheit in Oberhessen, an ihre Jahre im neu gegründeten Jordanien - und das wars. Was vor allem verschwunden ist - und das hat bei aller Tragik doch etwas mild Ironisches -, ist die Erinnerung an die von ihr in den letzten vierzig Jahren gnadenlos ausgeübte Hardcore-Religion.
Meine Mutter trat nämlich Anfang der siebziger Jahre den Zeugen Jehovas bei. Fortan feierten wir weder Geburtstag noch irgendeins der üblichen, im Verständnis der Sekte nur pseudochristlichen, eigentlich ja durch und durch "heidnischen" Feste wie Weihnachten oder Ostern. Es gab keine Blutwurst mehr zu essen, meine Mutter hörte mit dem Rauchen auf, entließ ihren ungläubigen Freund - und selbst ich als kleiner Junge musste von Tür zu Tür gehen und die frohe Botschaft eines bald drohenden Weltuntergangs verkünden.
Und jetzt ist alles weg. Zum Geburtstag wünschte sich meine Mutter Käsekuchen und ein gesungenes "Happy Birthday" und genoss sichtlich unser wackeliges Gratulationsgesummse. Auch Schokohäschen und gefärbte Eier im Osternest erzeugten bei ihr kein angewidertes Kopfschütteln, sonder ungetrübte Freude. Und die Darstellungen beliebter Bibelszenen im Stile des fundamentalistischen Realismus auf ihrem Zeugen-Jehovas-Kalender fand sie so befremdlich, dass ich den Kalender schnell wieder abhängte.
Überraschenderweise aber empfindet meine aus einsichtigen Gründen atheistische Seele keinerlei Triumph. Nur echte Verwunderung darüber, wie schnell eine solch fundamentale Veränderung passieren kann. Ein wenig erinnert mich das religiöse "Reset" meiner Mutter an den Fall des Eisernen Vorhangs. Gestern noch Maiparaden, heute schon Discounterläden.
Das Einzige, was mich nervös macht, ist die Vorstellung, dass bei mir - sollte ich später mal dement werden - der ganze Zeugen-Jehovas-Schmodder aus meiner Kindheit im Gegenzug hochkommen könnte. Sollte ich dann mit dem Wachtturm vor Ihrer Tür stehen, denken Sie dran: Ich war nicht immer so.
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