die wahrheit: Puzzle aus Eis
Wer das Haus von Gunther Wransbeck in Winsen an der Luhe betritt, wird sich schnell fragen, was der engagierte Frührentner in den zehn Tiefkühltruhen verstaut hat...
...die im großzügig geschnittenen Wohnzimmer und den angrenzenden Zimmern herumstehen. Darauf angesprochen, erklärt Wransbeck stolz: "Das Haus gehört meiner Mutter, und in den Tiefkühltruhen im Erdgeschoss befinden sich, genauso wie in den vielen Truhen im Keller, große Teile des Eisbergs, der zum Untergang der ,Titanic' geführt hat."
Gunther Wransbeck öffnet eine der klobigen Truhen und holt ein Stück Eis heraus. Er lächelt. Er besitzt die weltweit größte Sammlung dieser wichtigen Zeitzeugen. Wissenschaftler aus aller Herren Länder geben sich hier die Klinke in die Hand, bearbeiten die eisigen Klumpen mit filigraner Technik, während Wransbecks Mutter in der Küche das Mittagessen zubereitet. In Kennerkreisen besitzt sie den unzweifelhaften Ruf, die leckersten Kartoffeln der Welt zu machen. "Meine Mutter ist eine wichtige Person in diesem Puzzle, das immer noch Fragen aufwirft. Ohne ihre Kartoffeln wäre meine Arbeit niemals so weit gereift."
Der 35-jährige Hobbyhistoriker und frühpensionierte Bahnschrankenwärter hat mit seinen Aufsätzen über die Eisklumpen großes Aufsehen erregt. Anerkannte "Titanic"-Forscher haben sich in den letzten Jahren immer wieder in dem Haus nahe der Luhe getroffen und angeregt diskutiert, was in der Nacht geschehen sein muss, als die "Titanic" im Atlantik unterging. "Die Ergebnisse, die Herr Wransbeck vorlegt, sind zwar vollkommen verrückt und ganz grausam formuliert", so der amerikanische "Titanic"-Experte Konstantinos Smith, "aber wenn uns die Geschichte der Wissenschaft eines gelehrt hat, dann doch das, dass man auch den absurdesten Hinweisen nachgehen muss."
Und so graben sich Tag für Tag neue Forscherteams durch die kalten Beweisstücke. Gunther Wransbeck sitzt währenddessen im Sessel seines im vergangenen Jahr verstorbenen Vaters und beobachtet die Arbeit. Seine Aufgabe besteht darin, darauf zu achten, dass die Experten sich nicht zu lange mit einem einzelnen Stück beschäftigen. "Die können nämlich schmelzen. Das glaubt man gar nicht, wie schnell aus denen wieder Wasser wird." Auf die Frage, wo er diese Massen an Eisberg her hat, möchte er allerdings keine Antwort geben. "Da sind schon ganz andere gekommen und wollten beweisen, dass dieses Eis überhaupt nichts mit der ,Titanic' zu tun hat."
Konstantinos Smith bestätigt, dass er bisher noch keinen einzigen Eisklumpen in der Sammlung entdeckt hat, der tatsächlich aus Atlantikwasser bestehen könnte. Er und die vielen anderen Experten glauben aber daran, dass jemand, der so überzeugt und überzeugend ist wie Gunther Wransbeck, mit großer Wahrscheinlichkeit im Besitz eines Teils des legendären Eisberges ist. Warum sollte sich schließlich ein unbescholtener Mann solch eine Mühe geben, allen etwas vorzumachen? Der "Titanic"-Experte redet sich in Rage: "Das wäre eine Sensation. So ein Stück vom Eisberg könnte meine Theorie unterstützen, dass die ,Titanic' niemals untergegangen ist."
Zusammen mit Gunther Wransbeck und seiner Mutter möchte er sich in den nächsten Wochen auf eine ausgedehnte Expedition machen, auf der sie der Route der "Titanic" nachreisen. Sie wollen beweisen, dass der Untergang des britischen Passagierschiffs nie stattgefunden hat. Auf die Nachfrage, warum Gunther Wransbeck glaubt, Teile des "Titanic"-Eisberges zu besitzen, wenn diese gar nicht untergegangen ist, wird der sonst so freundlich schmunzelnde Mann ungehalten. Er verscheucht alle Anwesenden vom Tisch und starrt stumm und grimmig in die Kartoffeln seiner Mutter, bis die Journalisten und Wissenschaftler das Haus verlassen. Seine Ankündigung, im Jubiläumsjahr einen neuen aufsehenerregenden Aufsatz zu veröffentlichen, bekommen nur die wenigsten mit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr