die wahrheit: Antike Beschwörung im Bistro
Professor X. fehlte schlicht die Zeit, den versprochenen Aufsatz für das renommierte Literaturorgan in Angriff zu nehmen. Deshalb hatte er mich gegen ...
... ein stattliches Honorar gebeten, einen Entwurf "in essayistischem Ton" zu liefern. Ein zentrales Stichwort bestand aus einer Anmerkung Gottfried Benns kurz nach 1945: Künftig werde es nur "Verbrecher oder Mönche" geben. Intuitiv wob ich eine Äußerung Charlie Sheens aus der Sitcom "Two and a half Men" ein. An einer Bar - wo sonst? - lässt er den Satz fallen, es gebe nur "Arschlöcher oder Idioten". Wars nicht synonym zu deuten? Ließe sich nicht in einer Fußnote Benns und Sheens Drogenkonsum vergleichen?
Gegen Mittag unterbrach mich ein Anruf des Kollegen Weckerling. Ich willigte ein, ihn intermezzoartig auf ein Glas beflügelnden Rieslings zu treffen. Ohne Umschweife erzählte Weckerling von einem mehr oder minder privaten Nebenschauplatz. Er hatte die Kladde herausgekramt, die er um den Jahreswechsel 2009/2010 vollgekritzelt hatte, denn er entsann sich, die Telefonnummer jener attraktiven Frau notiert zu haben, der er auf einer Party zwischen Weihnachten und Silvester begegnet war. Ja, stimmt - ein Blick auf den Kalender entlarvt Weckerling als Meister der Entschleunigung. Seis drum.
Jedenfalls, und wie das so ist, blätterte er vor und zurück, stöberte etwas auf, das im leibeigenen Gedächtnis verschollen war. Anfang Dezember hatte er in seiner Eigenschaft als ernsthafter Dichter von Haiku-Parodien geschrieben: "In Griechenland funkts / denn der Staat ist pleite, blank / Antike Zukunft".
Ich wiederum hatte dem "Perlentaucher" kürzlich den Hinweis auf einen Artikel in der FAZ entnommen. Darin stand, es sei "aktuell", "in Bezug auf Griechenland das Erbe der Antike zu beschwören". Aktuell? Die Trödel- und Transuse Weckerling hatte es vor anderthalb Jahren klammheimlich zwar, aber wörtlich ausgesprochen!
"Politische Poesie quasi, gratuliere", sagte ich zu Weckerling und ersparte uns nicht das Nachhaken per Blödpointe, ob ihm obendrein "poetische Realpolitik" geglückt sei, nämlich die Telefonnummer der attraktiven Frau zu sichten und womöglich sogar anzuwählen. Weckerling druckste. Die Nummer sei unauffindbar gewesen, ihr Name ihm entfallen. "Entfallen?", fragte ich verwundert, während am Firmament ein Gewitter heranrollte. Weckerling redete mehr zu sich selbst als zum Gegenüber: "Drei Seiten nach dem griechischen Haiku stehen Verse von Lessing, die er als ,Lied aus dem Spanischen' tarnte." - "Aha. Sozusagen ein weiterer Fingerzeig auf die mediterranen Protestbewegungen", meinte ich.
Der erste Blitz zuckte, als Weckerling sich erhob und das Bistro lauthals beschallte: " Gestern liebt ich, / Heute leid ich, / Morgen sterb ich: / Dennoch denk ich / Heut und Morgen / Gern an gestern."
Gestern hab ich gern gehört, Weckerling sei in dem Bistro fröhlichsten Sinnes mit einer attraktiven Frau gesehen worden. Offen bleibt, ob er ein Mönch oder ein Idiot gewesen ist. Oder weder noch.
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