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die wahrheitSchlaflos im Rauch

Idyllisch: Peer Steinbrück wohnt jetzt sogar bei Helmut Schmidt...

Peer Steinbrück hadert mit dem Schicksal: Ob die Einwilligung zur Adoption nicht doch ein Fehler war? Bild: reuters

Die erste Nacht in Lokis Bett. Peer findet keinen Schlaf. Zu viel geht ihm durch den Kopf. Zwölf Schachpartien musste er an diesem ersten Abend spielen. So lange, bis er Helmut dann gewinnen ließ. Der liegt jetzt schnarchend nur einen Fußbreit neben ihm. Die Nachtzigarette ist ihm in die Schlafmütze gerutscht.

Überhaupt der Rauch. Die Wettervorhersage hat von dickem Nebel über Norddeutschland gesprochen. Dabei sieht es draußen viel klarer aus als hier im Schlafzimmer. Dreimal war der Feuermelder wegen des vielen Qualms angesprungen. Dann hatte er das verfluchte Ding endlich gefunden und aufs Garagentor gepfeffert. Helmut durfte das jedoch nicht wissen. Da war seine Schwerhörigkeit mit Peer im Bunde. Denn alles, was von Loki stammte, war tabu.

Auch bei der Gutenachtgeschichte musste Peer sehr standhaft bleiben und Beglückung mimen. Und ab und zu so Kommentare wie "Höchst interessant" oder "Sieh mal einer an!" abgeben. Ständig nämlich fragte Helmut: "Oder schläfst du etwa schon, min Jong?" Und genau das konnte er nicht. Wenn in einer Gutenachtgeschichte nämlich in jedem zweiten Satz von Herbert Wehner oder Willy Brandt, dem Warmduscher, die Rede ist, kann nicht nur ein Sozialdemokrat kaum schlafen. Aber dass Wehner immer damit gedroht haben soll, Lokis handgepflanzte Blumenrabatten zu zertreten, wenn es nicht nach seiner Schnauze statt nach Helmuts lief, das war ja allerhand! Wenn er selber, Peer, mal Kanzler würde, dann kämen ihm keine Beete ins Kanzleramt. Man darf sich nicht erpressbar machen.

Und dann das viele Gestrüpp ums Haus. Selbst jetzt im Spätherbst noch. An fast jedem Strauch hingen kleine Zettelchen mit genauen Gießanweisungen. Der Kaukasische Querphlox wollte vier Fingerhut Brackwasser am Morgen, der Knorpelknöterich die doppelte Menge am Nachmittag und die Tundrische Kletterflechte brauchte alle zwölf Stunden eine Kanne heißen Schwedentrunk. "Dass du da man keinen von vergisst, Peer!", hatte ihm Helmut mehr als einmal zu Protokoll gegeben. Und Peer gehorchte. Noch. Sogar den Biodöner für die Venus-Fliegenfalle hatte er mit dem Fahrrad von einem Spezialimbiss an der U-Bahn-Haltestelle geholt. Zusammen mit der Palette zollfreier Orientzigaretten vom Freihafen. "Die schickt mir immer noch Mubarak!", war Helmuts Kommentar. "So garstig war der Mann gar nicht. Musste damals eben ran, als sie meinen Freund Sadat erschossen hatten. Nimm dich bloß in Acht, mein lieber Peer. Die Terroristen schlafen nicht."

Helmut allem Anschein nach schon. Wie der alte König in einem fernen Märchenland, den die Sorge um die Zukunft seines Reiches selbst im Schlaf umtreibt. Seine rechte Hand ist ganz nah an Peers linke Pausbacke gerutscht. Mit scheelem Blick - mein Gott, der lebt ja auch noch - schaut Helmuts Adoptivsohn auf die fünf Finger, die eine leere Zigarettenschachtel umklammern. Was diese Hand schon alles getan hatte: den Führereid geschworen, Adolf Nazi den Arschwisch gemacht, Breschnew mit Wodka zugeprostet, die Unterschriften der Ostverträge kopiert, General Jaruzelski einmal die vollgespuckte Sonnenbrille geputzt, Strauß und Todenhöfer den Vogel gezeigt und nicht zuletzt tonnenweise den Schnupftabak auf die Oberlippe geschaufelt.

Und jetzt lag sie ganz dicht und lieb bei Peer. Der nahm sie in die seine und legte sie sanft auf das Fotoalbum zurück, über dem der Altkanzler eingeschlafen war. Da waren seine Lieblingsbilder von der Sturmflut drin. "Aber nur die Geretteten!", wie er hinzufügte. Einmal hatte er Peer besonders aufgefordert hinzuschauen. "Das war der junge Ole von Beust! Auch den hab ich gerettet. Aber was willst du machen. Man macht nicht alles im Leben richtig!"

Das ging Peer nicht aus dem Kopf. Auch er hatte verdammt das Gefühl, mit der Einwilligung zur Adoption vielleicht einen Fehler begangen zu haben. Und selbst der kleinste konnte ja, wie er vom Schachspiel wusste, den Verlust der Partie bedeuten. Und dabei war heute erst der erste Tag in Lokis Bett. Morgen wollte sich Helmut einmal rund um Hamburg schieben lassen. Und Seemannslieder hören. Von Peer gesungen. Und dazu noch Schach-to-go mit seinem ergebenen Pfleger spielen. Ob er, so durchfuhr ihn plötzlich ein furchtbarer Gedanke, den Job nicht lieber doch in Oggersheim beim Dicken machen sollte. Meinungsmäßig wärs ja machbar.

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