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die wahrheitRealitätspflege an neuer Stätte

Kolumne
von Eugen Egner

Ich muss dringend meine Autobiografie verfassen, denn so vieles hängt davon ab. Doch unglücklicherweise steht diesem Vorhaben im Wege, dass...

I ch muss dringend meine Autobiografie verfassen, denn so vieles hängt davon ab. Doch unglücklicherweise steht diesem Vorhaben im Wege, dass ich von einigen sehr wichtigen meine Familie und mich betreffenden Details keine Kenntnis besitze. Daher habe ich bislang nur den ersten Satz meines Lebenslaufs geschrieben: "Meine Geburt traf mich unvorbereitet und kam mir ungelegen."

Ich komme nicht weiter, solange es mir nicht gelingt, meine großen Wissenslücken zu schließen. Abgesehen davon, dass es mich selbst stört, zum Beispiel nicht zu wissen, wodurch genau meine Eltern einander kennengelernt haben oder ob ich tatsächlich in einer Waschküche geboren wurde, wirkt sich diese Uninformiertheit vor allem nachteilig auf meinen beruflichen Werdegang aus. Ohne lückenlose Biografie ist es mir nicht möglich, eine richtige Anstellung zu bekommen, deshalb muss ich mich mit zwei Halbtagsstellen über Wasser halten. Mittags eile ich von der ersten zur zweiten, um auch dort bis zur Erschöpfung zu arbeiten. Ich habe schon ernsthaft daran gedacht, mich verdoppeln zu lassen, aber das brächte dann sicherlich andere Nachteile mit sich, außerdem ist es derzeit technisch nicht durchführbar.

Die Lage hat sich neuerdings drastisch verschärft, da beide Arbeitgeber von mir verlangen, mich an einen entfernten Ort zu begeben, um dort ihre Interessen wahrzunehmen. Zu meinem Glück liegen die zwei mir zugedachten Einsatzorte, wie die hiesigen, ebenfalls nur etwa zwanzig Kilometer auseinander. Ich darf eigentlich nichts verraten (Betriebsgeheimnisse), aber wer könnte angesichts solcher Ungeheuerlichkeiten schweigen! Meine Mission hat wesentlich mit den Auswirkungen der immer stärker um sich greifenden Realitätsverwahrlosung zu tun, deren konzentriertestes Auftreten die Spezialisten genau dort ausgemacht haben, wohin ich mich begeben soll. Das Amt für Realitätspflege hat folgende Geheiminformation darüber herausgegeben:

"In den letzten Jahren haben weltweit beunruhigende Ereignisse stattgefunden, an denen sich eine allgemeine Tendenz ablesen lässt: Das, was wir Realität nennen, erschöpft sich offenbar und gerät in Auflösung. Die Ursache scheint, wie üblich, menschengemacht zu sein. Offenbar haben die von den diversen elektronischen Medien generierten und kumulierten Datenmengen ein Eigenleben angenommen, wodurch eine Art schwer schizophrenen Bewusstseins entstanden ist. Dieses erzeugt auf dem Wege der Selbstentzündung wahllos Kopien von ebenso wahllos kombinierten Realitätsteilen: das Phänomen der elektronischen Fata Morgana. Der Sitz dieses neuen, im menschlichen Sinne nicht persönlichen Bewusstseins wird in einem Bereich links unten neben der Realität vermutet."

Dieser Bereich soll von meinen neuen Wirkungsstätten aus zu Fuß gut erreichbar sein. Deshalb lautet der sprachlich leicht verwahrloste Befehl meiner Chefs: "Nehmen Sie einen kräftigen Stock mit und räuchern Sie das Ding aus. Das wird sich in Ihrer Biografie gut machen."

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3 Kommentare

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  • LB
    Ludwig Boerne

    Ergänzend: Ich bin nicht an der Wahrheit interessiert, sondern an Fakten.

  • P
    P.Lagiator

    Hallo Herr Egner,

    Kann ich Ihren wunderschönen Ausdruck "Realitätsverwahrlosung" in eigenen Texten frei verwenden, oder legen Sie Wert auf folgende Zitierweise (Beispiel):

    Die albernen und slapstickhaften Talkshowauftritte des Pfarrers Hintze während der Causa Wulff zeigten eine deutliche Realitätsverwahrlosung (Egner)?

  • SL
    Sam Lowry

    Auf der Suche nach der Wahrheit sollte man nicht zu weit gehen, denn man könnte davon wahnsinnig werden (oder wahnsinnig gemacht werden).

     

    Ich habe folgende Realitäten herausgefunden:

    1. Im Internet ist alles gelogen

    2. Es gibt keine Liebe

    3. Die "Terroristen" sind die Guten

    4. Es gibt keinen Tod

    5. Mit der Welt stimme etwas ni...

     

    Ich muss weg, ich bin schon wieder geortet...

     

    "Temet nosce"