die stimme der kritik: Bürger beobachten die Bahn (Folge 7)
Wie fühlt sich ein Paket wirklich?
Meine Mutter, mit 81 noch per Bahn unterwegs, neigt zu einem hübschen Versprecher: Sie sagt, ganz ohne Ironie, sie sei mit dem „Güternahverkehr“ gefahren. Auf irritierte Nachfrage kontert sie: „So heißt das doch, oder!?“ Der Vulgärfreudianer möchte vorschnell deuten: Kein Wunder, dass sich die Kunden so fühlen, die Bahn behandelt sie ja auch so.
Der Vorwurf ist so alt wie billig. In Wahrheit animiert die Bahn ihre Human-Güter zum Mitdenken. Zwei Beispiele: Neulich im Euregio, kurz vor Mönchengladbach die Durchsage, wegen eines Oberleitungsproblems mögen Reisende auf dem Weg nach Erkelenz (was, das ist wichtig, hinter M’gladbach liegt) bitte gleich in Neuss aussteigen und anderweitig weiterfahren. Gladbachreisende blieben, eine Haltestelle vor dem Ziel, arglos sitzen. Ein schwerer Fehler.
Der Zug bog nämlich in Neuss ab, machte eine weite Schleife über Köln und trottete haltlos zum Zielort Aachen. Die Folge: Die Gladbachreisenden waren, nachdem sie ausgeschüttet und wütend am Aachener Bahnsteig standen, weiter (gut 50 Kilometer) von ihrem Ziel entfernt als zwei Stunden zuvor. Lerne: Man muss sich immer fragen, was wollen uns die Bahnersleut sagen mit ihren merkwürdigen Durchsagen? Was kann es im schlimmsten Fall bedeuten?
Ähnlich ergeht es Reisenden, die seit dem Fahrplanwechsel vom Juni von Aachen nach Krefeld wollen. Im druckfrischen Heft „Städteverbindungen“ lesen sie staunend: Nur noch per Umstieg in M’Gladbach möglich. Komisch: Bahns Webpage sagt, der Personennahverkehrszug fährt durch, wie stets. Nachfrage beim, so heißt er wirklich: „Bahnhofsmanager“. Der räumt den natürlich bis dahin unbemerkten Fehler ein („aber das drucken andere“), empfiehlt als Reiselektüre das zentnerschwere Kursbuch („Da stimmts“) und ist sich keiner Schuld bewusst („Was glauben Sie, was hier alles schief läuft . . .“). Im Zweifelsfall alles – auch sechs Wochen später: Die falschen Heftchen werden weiter verteilt, ohne Korrektur und Hinweis.
Unklar bleibt aber: Wenn sich Bahnreisende wie Güter vorkommen, wie fühlen sich dann die Güter? Sind sie traurig, enttäuscht? Sind die angeblichen „Personenschäden“ in Wahrheit Güterschäden depressiver Pakete und Paletten, die den Freitod suchten? Oder ist das Frachtgut glücklich und stolz, dass es den Menschen gleich behandelt wird? Wir wüssten es gern. Und verstünden die Bahn noch besser. BERND MÜLLENDER
Folge 6 erschien am 25. April
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