die sache ist: Melancholische Verdopplung
Eine Kopie lässt tiefer blicken als jedes Original. Das beweist das Bremer Overbeck-Museum
Liebhaber*innen traurigschöner Geschichten kommen hier genauso wie Differenzdenker*innen auf ihre Kosten. Denn das Bild des Monats September, das Direktorin Katja Pourshirazi am Donnerstag den Besucher*innen des Bremer Overbeck-Museums vorstellt, ist als Kopie ein Original. Und seine Geschichte ist ein echter Roman.
Im Dezember 1908 besucht der Worpsweder Künstler Fritz Overbeck seine lungenkrank in der Schweiz kurende Frau Hermine, auch Künstlerin. Er malt dort das Bild „Davos-Dorf in leuchtender Abendsonne“. Ein halbes Jahr später wird sie als geheilt entlassen, pures Glück! Am 5. Juni kommt sie im Flachland an – und drei Tage später fällt er um und ist tot. Schlaganfall. Mit 39. Die Repliken dieser und zwei weiterer Gebirgswinterlandschaften erstellt sie, als es eine Kaufanfrage für sie gibt, „vermutlich, um sich nicht von dem Gemälde trennen zu müssen“, sagt Pourshirazi der taz.
Es lässt sich als Trauerarbeit deuten, wie sich Overbeck-Rohte die Malweise ihres Mannes anverwandelt hat. Es kann aber auch als Preisgabe des Eigenen verstanden werden, eine Selbst-Übermalung: Schon vor Fritz’Tod hatte Hermine ihr eigenes Schaffen hintangestellt. Nach ihm widmet sie sich fast ausschließlich der Vermarktung seines Œuvres. Die Kopie wäre dann eine Art der Verehrung. Die winzigen Unterschiede – eine um Zentimeter kleinere Leinwand, das Fehlen einer Signatur – passen dazu. „Sie sorgt so dafür, dass ihr Bild nicht mit dem Original von Fritz verwechselt wird“, sagt Pourshirazi. „Sie will ihn ja nicht fälschen.“
Die gegenwärtige Ausstellung, die in erster Linie Berg-Ansichten der im Wallis lebenden Bremer Künstlerin Katrin Ullmann gewidmet ist, zeigt auch das doppelte Davos der Overbecks. Dadurch ermöglicht sie allen, das Unterschiede-Suchspiel für sich selbst zu betreiben: Ist bei Hermine die Schneedecke nicht plastischer als bei Fritz, und weniger kaltblau verschattet? Ist eine Kopie, die sich durch Abweichungen als Kopie zu erkennen gibt, nicht bereits ein neues Original?
Mindestens wird das durch sie verändert: Der Nachvollzug der Bewegung des anderen erweitert im Akt des Kopierens die gar nicht so herausragend reizvolle Landschaft um eine im ursprünglichen Sinn des Wortes magische Dimension: Jede Kopie überschreitet sowohl die zeitlichen als auch die räumlichen Kontexte des ursprünglichen Werks. Jede Kopie ist übergriffig. Unerlaubt, als Plagiat, verletzt sie Persönlichkeitsrechte. Sie kann aber auch vergöttern und verherrlichen. Auch die Nachahmung „alter Meister“ als die kunsterzieherische Praxis schlechthin tendiert stets zur rituellen Beschwörung, aus der heraus, wenn es denn gelingt, das Eigene tritt. Ach du grüne Neune! Kopieren ist ja total mystisch!
Ausstellung „In den Bergen“: Overbeck-Museum, bis 9. 11.; Führung zum Bild des Monats: Sa, 11. 9., 17 Uhr
Es ist also beinahe unheimlich, dass Copy und Paste längst zur alltäglichsten Betätigung geworden ist, eine Beschleunigungsformel für Inhalte, die nur technisch, nicht aber gedanklich reproduziert werden: Vom kognitiv-intellektuellen Aufwand nähert sich die auralose Kopie der völligen Auslöschung, also mit Glück dem Nirwana. Damit lässt sich nichts mehr anfangen, außer Pop-Art.
Der Empfänger der Davos-Kopie, der Hamburger Staatsanwalt Doktor Hermann Hübbe, der sich doch das Original gewünscht hatte, scheint dagegen für die Kunst der minimalen Abweichung empfänglich gewesen zu sein: „Sie haben ja Künstleraugen“, schildert er im Dankesbrief der „lieben Frau Overbeck“ seine Empfindungen beim Betrachten des Duplikats, „und ich sehe so gern durch Ihre Augen“.Benno Schirrmeister
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen