die heisenberg’sche unschärferelation im täglichen einsatz von MAXIMILIAN SCHÖNHERR
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Der Physiker Werner Heisenberg schreibt in seiner Unschärferelation etwas vom Verschmieren von Impuls und Ort, aber im Grunde meint er die Fähigkeit von Teilchen, an zwei Orten gleichzeitig zu sein. Meine Mutter war so ein Teilchen, denn sie hat sich gern mit zwei Teilchen gleichzeitig an verschiedenen Orten verabredet, und nie hat sich jemand darüber beklagt. So wie sich bisher niemand darüber beklagt hat, dass ein Elektron normalerweise da und da ist, statt immer nur da oder da. Das ist es, behauptet Heisenberg, was die Welt im Innersten zusammenhält.

Auch unser Auto, eine große Ansammlung von Elektronen und anderen Teilchen, die sich nie genau entscheiden können, wo sie genau sind, aber dennoch den Eindruck eines Autos erzeugen. So wie wir selbst zwar wir selbst sind, aber was ist schon „wir selbst“, bei all der Unschärfe? Zu viel Philosophie um nichts! Heisenberg ist längst in uns, vielmehr in unserem Freund Klaus, wenn er sich nach dem Kino vor uns stellt und fragt: „Wo steht ihr eigentlich?“ – „Wir stehen direkt vor dir, Klaus! Darf ich vorstellen, meine Frau Claudia, und ich, der Jens. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, Klaus!“ – „Blöder Scherz,“ raunt Klaus zurück, „ich meine euer Auto. Wo steht ihr?“

Dann geben wir’s natürlich zu: „Drüben in der Hauptstraße vorm Bäcker stehen wir.“

Ein nur mit Heisenbergs Hilfe haltbarer Widerspruch, den wir bei einem gemütlichen Pils versuchen, aufzulösen. Und dann, beim Rausgehen, unweigerlich, Claudia zu mir, ihrem Mann, mit dem sie Bett und den Passat vorm Bäcker teilt: „Wo stehen wir gleich noch mal, Schatz?“ – „In der Hauptstraße vorm Bäcker, Schatz!“ Dann sagen wir tschüs zu Klaus, der sich überhaupt nicht wundert, weil er selbst fernab in der Tiefgarage steht. Wir schlendern Arm in Arm runter zur Hauptstraße, wo wir vorm Bäckerladen auf fast unphysikalische Weise mit unserem Auto eins werden und als lustige Teilchenwolke nach Hause fahren. Weil ich morgen früher raus muss, frage ich Claudia im Halbschlaf sicherheitshalber noch: „Wo steh’n wir eigentlich?“

Die Unschärferelation sagt etwas darüber aus, dass wir nichts über den Ort von Teilchen aussagen können, deren Geschwindigkeit wir genau kennen. Wenn ich also im Traum ein Raumschiff besteige, den Timewarp einschalte, weiß ich zwar, wie schnell ich bin, aber nicht mehr, wo ich bin. Da richte ich mich im Traum auf und sehe Claudia, deren Geschwindigkeit ich genau kenne, völlig unscharf neben mir liegen. „Claudia, wie schnell schläfst du?“, flüstere ich.

Bis vor kurzem dachte ich, dass sich die Unschärferelation, 77 Jahre nach ihrer Entdeckung, vorerst nur im Privatleben breit gemacht hat. Stimmt aber nicht. Denn als ich vorhin beim Finanzamt anrief und meine Sachbearbeiterin in einen anderen Raum gehen und in einen Aktenschrank klettern musste, um etwas nachzusehen, sagte sie entschuldigend am Telefon: „Ich leg Sie mal grad’ zur Seite!“

Dummerweise hat die Gute vergessen, dass sie mich gerade zur Seite gelegt hatte – und ist ohne mich nach Hause gegangen. Da liege ich also immer noch. Auch als Claudia mich beim Abendessen fragt, wo wir eigentlich stehen.