die hebamme und der alte fuchs:
von FRANK SCHÄFER
Vor unserem Haus stand ein alter Golf im absoluten Halteverbot. Sein Besitzer hatte ihn zu allem Überfluss so auffällig schief auf dem Bürgersteig abgestellt, dass es unserem ohnehin recht aufmerksamen, weil längst verrenteten Blockwart sofort auffallen musste. Der achtlose Golffahrer dauerte mich, denn im nächsten Monat würden ihm die 40 Mark ja sehr fehlen – wenn die Skatbrüder in seiner Stammkneipe die letzte Runde orderten, er sich vorzeitig verabschieden und einsam nach Hause fahren müsste, und die hämischen Sprüche, die sie ihm hinterherriefen, tiefe Kerben in seine Seele schnitzten. Und das alles nur, weil der gewesene Stabsunteroffizier von nebenan keine Kinder, folglich Langeweile hat und sich deshalb vom Ordnungsamt zu jedem ersten des Monats ein Heftchen mit Blankoverwarnungen zuschicken lässt, um die Politessen zu entlasten.
Andererseits, dieser mit den vorderen Reifen auf den Bürgersteig geparkte, mit dem Heck weit in den Verkehr hineinragende Golf schien den alten Stuffz nun wirklich provozieren zu wollen. Das kann man auch geschickter anstellen, dachte ich, drängte mich an seiner Frontpartie vorbei – und hielt dann überrascht inne. Auf der Ablage lag eine an der Risskante ausgefranste und unordentlich gefaltete Seite eines Karo-Ringblocks. Das sah alles sehr eilig aus. Auch die verhuschte Schrift darauf, deren energische, aggressive, ja fast hätte ich gesagt maskuline Steilheit so gar nicht mit dem Inhalt konvenieren wollte: „Hebamme bei der Arbeit!“, stand da.
Unwillkürlich sah ich nach oben in die vielen anonymen Wohnungsfenster, als könnte mir das Aufschluss geben, wo jetzt gerade wichtige und schwere Geburtshilfe geleistet wurde. Ich war ganz still, und ich horchte, aber keine gebärende, stellvertretend die ganze Unbill des Existierens hinausschreiende Frau war zu hören.
Ich brachte schließlich meine Einkäufe nach oben in die Wohnung, kochte Kaffee und setzte mich damit auf den Balkon, wo ich die Straße im Auge behalten konnte. Vielleicht hatte ich ja Glück! Und tatsächlich, zwanzig Minuten später klappte eine Haustür. Ich duckte mich hinter die Blumenkästen. Und? Der Rentner machte seine mittägliche Patrouille. Natürlich sah er den Falschparker sofort, eilte zackig um den Golf herum, zückte sein Verwarnungsblock und schrieb sich schon die Nummer auf – als er den Zettel im vorderen Fenster bemerkte. Er stutzte, kratzte sich mit dem Bleistift das Terrain hinter seinem Ohr, klopfte hektisch auf seinen Block wie ein Dirigent, der das Orchester um Ruhe bittet, und zerknüllte schließlich die halb ausgefüllte Seite. Er schnaubte kurz, nickte sich selbst bestätigend zu und verschwand wieder strammen Schrittes im Haus gegenüber. Es gibt doch noch Gerechtigkeit auf dieser Welt, dachte ich und las ein wenig in Walter Serners grandiosem kleinen Betrüger-Roman „Die Tigerin“.
Eine halbe Stunde später kam der Maurer von unten links in Arbeitsmontur und gutgelaunt pfeifend aus dem Haus, stieg in den Hebammen-Golf und fuhr schneidig davon. Der alte Fuchs, der.
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