die dritte meinung: Bei der Arbeitszeit kämpft die IG Metall für die gesamte Gesellschaft, sagt die Forscherin Kerstin Jürgens
Kerstin Jürgens
ist Arbeitszeitexpertin und Professorin für Soziologie an der Universität Kassel
Arbeitszeiten sind seit jeher ein Streitthema. Hier wird nicht weniger verhandelt als die Frage, wie viel Lebenszeit Menschen für die Existenzsicherung aufwenden und wie viel Freiraum für andere Aktivitäten im Leben bleibt.
Dass Menschen Freizeit zur Erholung benötigen, für Kinder und pflegebedürftige Angehörige da sein wollen und müssen oder sich politisch und ehrenamtlich engagieren sollen – diese Einsichten finden sich in vielen Verlautbarungen, wenn über Gesellschaft, Zukunft und sozialen Zusammenhalt gesprochen wird. Dass die Voraussetzungen hierfür aber oft nicht gegeben sind, bleibt unterbelichtet.
Deutschland ist ein Land mit regulierten, aber zugleich flexibel an Märkten angepassten Arbeitszeiten. Arbeitsprozesse sind verdichteter, Einsatzzeiten entgrenzter als noch vor einigen Jahren. Zugleich ist Erschöpfung als neues Krankheitsbild verbreitet – und zieht enorme Kosten für Unternehmen wie auch die gesamte Volkswirtschaft nach sich, vom Leid der Betroffenen einmal abgesehen.
Wenn die IG Metall nun für eine vorübergehende Absenkung der Arbeitszeit wirbt, ist dies weit mehr als eine Forderung für die Beschäftigten einer Branche. Es ist ein gesellschaftspolitisches Signal, um über die Gestaltung von Arbeit neu nachzudenken. Sorgearbeit ist längst ein Thema geworden, das auch Männer betrifft; Gesunderhaltung wird gerade im demografischen Wandel ein Gebot der Stunde (vor allem für Schichtarbeitende); und im Zuge der Digitalisierung wird die breite Erwerbsbevölkerung Zeit für Weiterbildung benötigen.
Die bisherige Vollzeitarbeit wird also schon längst von einer Realität überholt, in der viele Menschen diesem Maßstab nicht mehr genügen können. Sie brauchen Zeit für sozial verbindende Aktivitäten – Zeit, die ihnen bisher fehlt. Die Option auf eine Absenkung der Arbeitszeit oder ein Rückkehrrecht auf das vorherige Arbeitsvolumen ist daher nur der logische nächste Schritt, wenn man gesellschaftlichem Wandel proaktiv begegnen und desintegrative Dynamiken vermeiden will.
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