der rote faden: Abgeschoben, ausgetrunken, ausgezählt
Durch die Woche mit Ebru Taşdemir
Als ich noch ein Kind war, in den 1980er Jahren, da wollte Bundeskanzler Helmut Kohl die Hälfte der türkischen Familien aus dem Land werfen. Damals wussten wir das nur nicht. Heraus kam das Ganze erst 2013, als geheime Gesprächsprotokolle zwischen Helmut Kohl und Englands Premier Margaret Thatcher veröffentlicht wurden. 1983 lobte die damalige Bundesregierung eine Rückkehrerprämie aus, und ich vermute, die CDUler, die sich das ausgedacht hatten, klopften sich gegenseitig auf die Schultern für diese geniale Idee: Pro Familie gab es 10.500 DM plus der bis dahin eingezahlten Rentenbeiträge. Meine Eltern lachten eher darüber, so wie viele. 10.500 DM waren für schwer schuftende Fabrikarbeiter*innen in etwa drei bis vier Monatsgehälter, für diese Summe ging man doch nicht zurück! Die Zahl der Rückkehrenden war deshalb grandios mickrig, und nur wenige glaubten, dass der Staat dieses Geld völlig selbstlos verteilte.
Schlussendlich kriegte der arme Helmut Kohl nicht die Hälfte der Türken aus dem Land, dafür aber eine türkische Schwiegertochter. Rhetorisch war das Ganze brillant, war die „Rückführung“ der hiesigen Türkeistämmigen aber schön in den Köpfen. Und so fragte man uns öfter, wann wir denn in die „Heimat“ zurückkehren würden. Und fast hätte man glauben können, dass das Anfängerfehler in einem Land waren, das sich lange weigerte, Einwanderungsland zu sein.
Einige Jahre später feierte sich dieses Land für das inkludierende Selbstverständnis, Gipfel für Integration und Islam ließen glauben, dass Islam und Integration zu Deutschland gehörten und deshalb gemeinsam ausdiskutiert werden könnten. Dann, 2017, formulierte ein ehemaliger Spitzenpolitiker der CDU, jetzt AfD, einen Halbsatz: „In Anatolien entsorgen“ wollte er die ehemalige Bundesbeauftragte für Integration, Aydan Özoğuz.
Entsorgen. So als wäre sie Sondermüll. Ein verbaler Griff ins Klo, der die rhetorische braune Scheiße aus den Tiefen holte und schön breit verteilte.
Seitdem hört das nicht auf mit dem Verteilen. Bundesinnenminister Horst Seehofer freute sich an seinem Geburtstag über die Abschiebung von 69 Afghanen. Wegschicken, abschieben, entsorgen, diese Wörter werden nicht in dämmrigen Spelunken am Stammtisch gemunkelt. Sie sind da, bei Tageslicht, in aller Öffentlichkeit und werden nun auch noch als „Challenge“ präsentiert. Das sind Aktionen, die mit der Funktion „Mach es mir nach“ in den sozialen Netzwerken aufploppen, womit man Nachahmer*innen motiviert, eine Art Wette. Meistens sind es Spaßchallenges, wobei Nutzer*innen in den sozialen Medien Buchvorschläge oder Fotos aus dem Alltag veröffentlichen. Dass rechtsextreme NPD-Politiker wie Udo Voigt diese Aktionsform nun kaperten und vor allem Journalist*innen abschieben wollen, die – welch Glück eigentlich – nicht Udo heißen, sondern Hatice, Deniz oder Dunja, ist erklärbar durch die mediale Aufmerksamkeit, die sie dafür bekommen. Unerklärlich ist, dass Netzwerke wie Twitter diese Menschenfeindlichkeit dulden. Nutzer sperren können sie schließlich sehr gut: Felix Dachsel, Chefredakteur von Vice, wurde Anfang der Woche auf Twitter gesperrt, weil er die Punkband Slime mit „Deutschland muss sterben, damit wir leben können“ zitierte. Ein Punksong ist eben gefährlicher als Rechtsextreme.
Ein wenig Punk auch bei den Wahlen in Türkiye. Wahlsiegerin ist die Partei, die Wahlausgänge bestimmen kann, ohne vollständig anzutreten – das schaffte die reichlich angeschlagene, links-prokurdische HDP. Indem sie sich in den westlichen Gebieten nicht zur Wahl stellte, stützten ihre Anhänger*innen das Oppositionsbündnis. Ohne diese Strategie würden wir heute nicht über das tolle Ergebnis für die Opposition in den türkischen Großstädten reden. Während halb Deutschland am vergangenen Sonntagabend den „Tatort“ goutierte, hingen viele, nicht alle ihrer türkeistämmigen Nachbar*innen ebenfalls an den Bildschirmen. Chips und Kürbiskerne standen auf dem Tisch, und der Tee war pünktlich zur Schließung der Wahllokale aufgebrüht. Aber kaum war das erste Glas ausgetrunken, war – zack! – schon alles vorbei. So schnell wie die Türken einen Flughafen bauen können, so schnell sind sie auch bei den Wahlergebnissen.
Die Hauptstadt Ankara hat nun einen Kandidaten des Oppositionsbündnisses als Oberbürgermeister. Und in der 20-Millionen-Metropole Istanbul hatte Ekrem Imamoğlu knapp 20.000 mehr Stimmen als der AKP-Kandidat. Aber es wäre nicht die Türkei der AKP, wenn das Ergebnis damit feststehen würde. Denn das tut es erst, wenn Erdoğan glücklich damit ist. Sogar von einer Wahlwiederholung war am Freitag früh aus AKP-Kreisen die Rede. Es geht also weiter.
Deshalb als kleiner Servicetipp am Rande: Kaufen Sie für den April reichlich Tee und Kürbiskerne – und laden Sie auch Ihre Nachbar*innen ein.
Nächste Woche Klaus Raab
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