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der rote faden Der Bergdoktor, die AfD und Fernsehkabel unterm Rollrasen

nächste wocheDaniel Schulz Foto: Jan Schmidbauer

durch die woche mit

Johanna Roth

Mainstream

Liebes Kolumnenpublikum, da wir uns ja jetzt eine ganze Weile kennen, wird es Zeit für ein persönliches Geständnis: Ich besitze keinen Fernseher. Ist für mein Alter nicht sehr originell, ich weiß, Digital Na­tives brauchen so was nicht mehr.

Aber manchmal, wenn ich drüber nachdenke, aus dem Mainstream der Laptop-Cineas­ten mit Nackenverspannung auszubrechen, stöbere ich im Netz durch die Produktbewertungen bei Elektrogroßhändlern. Und lese mit wachsendem Erstaunen Sätze wie: „Wir haben uns diesen TV als Drittgerät für unser Schlafzimmer gekauft“, oder: „Ich möchte gerne bei uns im Gartenhaus (steht ca. 8 m vom Haus entfernt) TV-Anschluss haben“.

Ernstfall

Man sollte meinen, dass sich in Schlafzimmern und sogar Gartenhäusern Aufregenderes abspielen könnte als Florian Silbereisen und der „Bergdoktor“, aber gut. Mainstream ist offenbar doch eher: Fernsehen immer und überall, und so ist es nur folgerichtig, dass ein Großteil des Wahlkampfs diese Woche im Fernsehen stattfand. Schulz gegen Merkel (eigentlich natürlich mit ihr, das darf aber keiner wissen, alles furchtbar dornenvögelig), Göring-Eckardt vs. Dobrindt, Weidel pro Wagenknecht contra Weidel – GZSZ nichts dagegen. Dabei finden sich die wirklich interessanten Äußerungen ganz woanders. Schon einige Tage bevor sie im ZDF einen halbwegs passenden Moment dafür abwartete, mit fein ziselierter Schnute das Studio zu verlassen, um Minuten später eine umfangreiche Beschwerde über die angeblich unprofessionelle Moderation („eines öffentlich-rechtlichen Senders nicht würdig“) rauszuschicken, hatte Alice Weidel den Ernstfall geübt. Die Oberhessische Presse versuchte vor einer Wahlkampfveranstaltung in dem Städtchen Kirchhain, die AfD-Spitzenkandidatin sowohl zu interviewen als auch zu fotografieren. Beides scheiterte binnen Minuten, was die OP dankenswerterweise dokumentiert. Von Weidel ist das rührende Zitat überliefert: „Ich mach das nicht mehr. Es tut mir leid. Mit Rassismus und ausländerfeindlich und so. Ich brauch das alles nicht.“ Leider meinte sie nicht ihre Politik, sondern Fragen dazu.

Immerhin erübrigt sich spätestens jetzt die ewige „Soll man mit der AfD reden?“-Diskussion. Selbst der Skeptischste müsste doch sofort fordern: Gebt ihnen jeden nur verfügbaren Sendeplatz! Inhalte werden da schnell überwunden. Alice Weidel ergriff ja ganz offensichtlich schlicht deshalb die Flucht, weil sie keine drei vernünftigen Sätze am Stück herausbrachte. Schon in der vorherigen Sendung wirkte sie wahlweise, als hätte sie einen Teleprompter gefrühstückt oder als wolle sie beweisen, dass Mansplaining nicht nur Männer können. Auf die Frage der Moderatorin nach Weidels Haltung zur Mietpreisbremse erläuterte diese ihr gönnerhaft die „illegitime Politik der Europäischen Zentralbank“.

General Franco

Ach nein. Dann lieber einen guten Film. Um diese Jahreszeit empfiehlt sich „E-Mail für dich“: New York im Herbst, Tom Hanks und Meg Ryan suchen und verwechseln einander mal wieder, Harry Nilsson und Louis Arm­strong singen dazu, es ist wirklich schön. In einer Szene streitet Meg mit ihrem nöligen Intellektuellenfreund im Kino über ihre Ziehmutter, die mal eine aventura mit General Franco hatte. Er ist hochgradig empört: Menschen täten ja die seltsamsten Dinge bei Reisen in fremde Länder, „aber sie verlieben sich nicht in faschistische Diktatoren!“

Niederlausitz

Tja, nun. Was Deutsche so tun, wenn sie in andere Länder reisen, davon wollen wir gar nicht erst anfangen; die Frage, in wen oder ob sie sich überhaupt noch verlieben, lassen wir auch lieber beiseite. Im eigenen Land jedenfalls tun sie allerlei seltsame Dinge, sie kaufen auberginenfarbene Opel, bestehen auf einem Cent Rückgeld und verlegen Fernsehkabel unterm Rollrasen. Mir jedenfalls gefällt die Vorstellung, dass AfD-Wutbürger in ihrem beheizten Gartenhaus hocken, auf Netflix in diesen Film zappen und „faschistische Diktatur“ googlen.

Bleibt noch, zwei Menschen zum Geburtstag zu gratulieren. Einmal Otis Redding, einst geboren am 9. September und gestorben viel zu früh, dessen „Try a little tenderness“ man als Verhaltenskompendium jedem nahelegen möchte, der sich so richtig gut dabei fühlte, die Kanzlerin bei ihrem Besuch in der Niederlausitz am Mittwoch mit wüstesten Beschimpfungen niederzublöken, aber eigentlich nur mal wieder so richtig in den Arm genommen werden möchte.

Und zweitens schreibe ich eine Karte an İlker Deniz Yücel, 9 Nolu Kapalı Ceza İnfaz Kurumu, B Blok 54 Nolu Koğuş, ­Silivri/Türkei, der an diesem 10. September 44 Jahre alt wird und seit über 200 Tagen in Einzelhaft sitzt. Tun Sie es mir doch gleich.

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