piwik no script img

der berliner kulturdiaspora auf der spurBerlinale kann alles sein: Eine U-Bahnstation, ein Supermarkt, ein Metropolenfinale beim Fußball

Wo bitte geht’s zur Berlinale?

Auf dem Leopoldplatz in Berliner Wedding wird auf die Frage „Wie komme ich zur Berlinale?‘‘ nicht mit einem Schulterzucken geantwortet. Das mag an der Eigenwilligkeit liegen, die die Bewohner dieses Bezirks wie ihren Augapfel hüten. „Oh, zur Berlina‘‘, antwortet ein Mann, dem unter unverbindlicher Verallgemeinerung ein intellektuelles Morgenpost-Niveau zugebilligt wird, mit einem Seufzer: „Da sind’se hier falsch. Zuerst müssen’se bis zum Zoo und dann weiter bis zur Berlina.“ Nach dieser Wegbeschreibung wird eine Kunstpause eingelegt. „Oder meinen Sie das Olympiastadion? Wissen’se, man weiß ja nie, was die Leute wollen. Aber von Fußball vasteh ick nüscht. Hertha ja, aber dann ist Schluss. Wohin wollen Sie nu?‘‘ „Zu den Filmfestspielen‘‘. „Wat denn, gerade haben Sie noch Berlina gesagt‘‘, antwortet der Mann ungeduldig. „Zum Scherzen sind wir nicht aufgelegt‘‘, belehrt seine Frau, die bisher schweigend dabei stand.

Die Stadtmauer um die Kulturdiaspora ist aus Missverständnissen gebaut. Kann sein, dass die im Wedding besonders kultiviert werden, weil die Leute hier gern unter sich bleiben. Wer fragt: „Was ist die Berlinale‘‘, begibt sich auf heikles Terrain, denn die alteingesessenen Berliner haben gelernt, mit Nachsicht auf dumme Fragen zu reagieren. Besser eine Retourkutsche als keine Antwort lautet die Devise. Noch besser aber, um die Ecke denken, weil hinter Mauern das Gesicht gewahrt bleibt. „Die Berlinale? Da stehen’ se druff‘‘, ist so eine Replik. „Da bin ich geboren‘‘ eine andere. Was sich reibt, passt zum Ort. Der Leopoldplatz mit der turmlosen Backsteinkirche von Schinkel ist der Platz in Berlin mit dem südeuropäischsten Flair. Keiner bemerkt es.

Ganz anders die Reaktionen auf der Wilmersdorfer Straße. Dort, wo die Konsummeile dem Niedergang des Mittelstandes kaum noch trotzen kann, wird dennoch eisern auf Bildung gemacht. „Die Berlinale, das ist dieser Filmball, wo die Schauspielerinnen hinkommen“, sagt eine Frau, die die Sehnsucht nach Höherem durch ihre Schuhwahl kompensiert. Die Fußgängerzone ist ihr Laufsteg. Ein türkischer Arbeiter wiederum ist ebenfalls bestens informiert. „Ich war schon mal als Lieferant dort“, erklärt er. „Zum 50. war das. Gab Champagner aus Frankreich.“ Überhaupt geben angegraute Männer die treffsichersten Antworten. Sie tun es, indem sie sich in ganzer Größe präsentieren. So spüren sie die Wichtigkeit. „Die Berlinale? Das ist doch dieses Filmding, wo es die Bären gibt!“ Unter günstigeren Umständen hätte der Kandidat hundert Punkte und eine Reise nach Cannes oder Venedig gewonnen!

Am Hermannplatz, wo sich wider alle Logik der Himmelsrichtungen der Sonnenuntergang in der ostseitigen Fensterfassade von Karstadt spiegelt, zeitigt die Günther-Jauchisierung der Gesellschaft bereits erste charakterverändernde Folgen. Bereitwillig stellen sich die Angesprochenen der Frage, was es mit der Berlinale auf sich habe. Am liebsten aber wäre ihnen, wenn sie per Multiple-Choice und Knopfdruck antworten könnten. „Es muss eine Ausstellung sein oder ist es ein Schönheitswettbewerb?“ Die Probanten versuchen aus der Mimik des Fragenden die richtige Antwort zu erschließen. Dabei wird angenommen, dass der, der fragt, immer Recht hat. „Fremd ist mir das Wort nicht, aber richtig zuordnen kann ich es nicht“, sagt einer, der diese sprachliche Verkleidung seiner Unsicherheit sicher bei „Wer wird Millionär?“ gelernt hat. „Keine Ahnung, aber das Wort kommt irgendwie von Berlin“, meint ein anderer. Und so geht es weiter. Die Karl-Marx-Straße hoch, den Mariendorfer Damm entlang. die Beusselstraße runter. Überall dorthin, wo große Kultur klein raus kommt.

Das Abendrot auf der Ostseite von Karstadt ist übrigens auch schnell erklärt: Die untergehende Sonne färbt die Wolken über Neukölln. Diese spiegeln sich in den Fenstern. Alles ist Illusion. WALTRAUD SCHWAB

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen