debatte: Europa erfindet sich neu
Es geht nicht nur um Geld. Wir können der innovative und kulturelle Magnet der Welt sein. Das ist die Stärke demokratischer und offener Gesellschaften
In diesen Tagen beginnt eine neue europäische Epoche. Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde die Entwicklung unseres freiheitlichen, prosperierenden und friedlichen Europas von den Vereinigten Staaten garantiert. Damit ist es jetzt vorbei. Während Russland Krieg gegen die europäische Friedensordnung führt, greift die amerikanische Regierung die europäische Werteordnung an. Wir können hoffen, dass die USA zu einem Wertebündnis mit Europa zurückkehren. Aber wir müssen handeln in der Annahme, dass dies nicht der Fall sein wird.
Einfach wird dieser Weg nicht werden, aber wir können ihn gemeinsam bewältigen. Europa hat alle Voraussetzungen, um sich in dieser Welt zu behaupten. Und Europa ist nicht allein. Die EU ist die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, mit 450 Millionen Einwohnern, der zweitwichtigsten Währung der Welt und einer großen sozialen und kulturellen Anziehungskraft. Mit dieser Stärke garantiert die EU die Unabhängigkeit ihrer Mitgliedstaaten. Das sollte in diesen Zeiten auch Ländern wie Ungarn oder der Slowakei zu denken geben. Sie müssen sich fragen, ob sie als gleichberechtigte Partner Teil einer regelbasierten Gemeinschaft sein oder von Russland dominiert beziehungsweise von Washington über den Tisch gezogen werden wollen.
Gleiches gilt für die große Mehrheit der Länder weltweit, mit denen Europa jetzt verlässliche Partnerschaften eingehen kann – auf Augenhöhe statt mit Erpressermethoden. Die USA, Russland oder China mögen Politik als Nullsummenspiel betreiben, aber es gibt immer noch eine globale Mehrheit für Partnerschaften und belastbare Kooperationen. Freiwillige Vereinbarungen zwischen Staaten bringen beide Seiten voran, sei es bei Klimaabkommen, über Forschungskooperationen bis hin zu Sicherheitspartnerschaften. Das 20. Jahrhundert ist eine Erfolgsgeschichte genau dieses Prinzips. Deshalb leben wir in Europa als unabhängige Staaten in Frieden, Freiheit und Wohlstand zusammen. Dafür lohnt es sich selbstbewusst einzutreten.
Die Grundlage dafür ist militärische, wirtschaftliche und politische Stärke. Wir brauchen eine wesentlich robustere Rüstungs- und Verteidigungspolitik, gerade auch mit Blick auf die Ukraine. Denn die Ukraine ist die Frontlinie für die Verteidigung der Freiheit und Unabhängigkeit Europas. Wir brauchen neue Impulse für Wachstum und Innovation, um unsere Wirtschaft zu stärken. Und wir brauchen mutige politische Führung, die für Interessenausgleiche in Europa sorgt und Partnerschaften weltweit aufbaut und festigt.
Wir in Deutschland spielen dabei die wichtigste Rolle. Wir sind das stärkste Land in der EU, und haben entscheidenden Einfluss auf den Erfolg Europas und damit auf unser eigenes Schicksal. Der finanzielle Spielraum dafür wird gerade geschaffen, und das ist gut so. Denn wenn wir jetzt nicht bereit sind, in die Zukunft unserer Kinder zu investieren, gefährden wir die Grundlagen ihrer Zukunft in Freiheit und Frieden.
Abschied von alten Reflexen
Geld alleine wird allerdings nicht reichen. Es geht auch darum, ob uns ein gesellschaftlicher Aufbruch und ein umfassender Modernisierungs- und Innovationsschub gelingen werden. Wir sind ein Land und ein Kontinent der Dichter und Denker. Nur mit Kreativität, Innovation und Schaffenskraft können wir uns behaupten. Sorgen wir dafür, dass die klügsten Köpfe und alle Menschen, die wirklich etwas bewegen wollen, ihre Zukunft in Europa sehen und nicht in einem totalitären China oder einem instabilen Amerika.
Der Abschottung der Nationalisten dieser Welt können wir ein Europa entgegenhalten, das „open for business“ ist. Wir können der innovative und kulturelle Magnet der Welt sein. Denn das ist die Stärke demokratischer und offener Gesellschaften.
Damit dies gelingt, braucht es Mut zur Veränderung und den Willen, hart dafür zu arbeiten. So wie wir uns als Gesellschaft von vielen Gewissheiten verabschieden müssen, sollten auch die demokratischen Parteien alte Reflexe überdenken. Die Union könnte beispielsweise akzeptieren, dass Migration nicht in erster Linie eine Bedrohung ist, sondern die Voraussetzung dafür, dass wir uns als Innovations- und Industriestandort behaupten können.
Die SPD könnte ein offeneres Ohr für die Belange unserer östlichen Nachbarstaaten entwickeln und dafür, dass der Staat nicht die Antwort auf alle Probleme ist. Die Linkspartei könnte sich von sicherheitspolitischen Illusionen ebenso verabschieden wie von alten antieuropäischen Impulsen. Und die Grünen könnten die Chancen mancher technologischer Innovationen stärker in den Blick nehmen als deren Risiken. Jetzt ist die Gelegenheit, unsere politischen Diskurse den neuen Realitäten anzupassen.
Nicht zuletzt brauchen wir nun einen intensiven gesellschaftlichen Dialog darüber, was uns als Wertegemeinschaft ausmacht und was jede und jeder zur Verteidigung und Gestaltung unserer gemeinsamen Zukunft beitragen kann. Als Bürgerinnen und Bürger sind wir weder Konsumenten staatlichen Handelns noch hilflose Objekte der Zeitgeschichte. Wir sind freie Menschen, die mit unseren Ideen und unserer Tatkraft helfen können, Deutschland und Europa zum Ort der Zukunft zu machen, in unserem Beruf, in unserer Nachbarschaft, in unserem Gemeinwesen. Ein gesellschaftliches Dienstjahr für junge Menschen könnte ein möglicher Beitrag für diese neue Zeit sein und die stärkere Ermöglichung und Einbindung von freiwilligem Engagement aller Teile der Gesellschaft. Denn gerade wenn es schwierig wird, ist der gesellschaftliche Zusammenhalt unsere wichtigste Währung.
Wir alle sind Mitgestalter dieser neuen Zeit. Und wenn wir Erfolg haben, können wir eines Tages auf sie zurückblicken als die neue Geburtsstunde Europas.
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