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daumenkino„L’Amour“

Tauschregeln

Mit dem Fahrrad rollt er geradewegs in ihr Leben und fährt sie fast über den Haufen. Wenn Marie und David in einer kalten Berliner Nacht zum ersten Mal aufeinander treffen, wirken sie wie zwei Kinder, die sich in die Kleidung der Erwachsenen verirrt haben. Marie trägt einen knallengen Anzug, hat die Lippen grell geschminkt, die Haare streng nach oben gesteckt und wartet auf den nächsten Freier. Bei David sind es die linkischen Bewegungen, die klar machen, dass dieser Kerl noch nicht reif für die Arbeitswelt ist. Höchstwahrscheinlich bricht er sich deshalb direkt zu Beginn den Arm und kann nicht weiter auf einer Baustelle jobben.

Marie und David verkörpern zwei unterschiedliche Prinzipien des Denkens, Fühlens und Handelns. Als Prostituierte hat sie die Regeln des Tausches längst verinnerlicht, während er sich jenseits einer realen Ordnung bewegt. Zusammen gehen sie auf die Reise durch ein winterliches Deutschland. Während die beiden nur eine gemeinsame Ebene des Zusammenlebens suchen, will der Film die reine und ehrliche Liebe entdecken. Ganz konkret und hochsymbolisch – Philipp Grönings „L’Amour“ vollzieht eine Gratwanderung zwischen Lovestory und Parabel über die Ökonomie des Geldes und der Liebe. Marie zahlt das Geld der Freier auf der Bank ein und holt sich neues aus dem Automaten. Mit den gereinigten Scheinen finanziert sie das gemeinsame Leben und verlangt von David dafür eine Gegenleistung. Seine Zuneigung kann sie wiederum nicht erwidern, weil er sie nicht kaufen will. Beide sind gefangen in einem Kreislauf, der sich immer mehr verselbstständigt.

Manchmal trägt Gröning zu viel auf den Rücken seiner Protagonisten aus. Etwa wenn in einer nicht enden wollenden Folge von Überblendungen ein Freier nach dem anderen zu Marie ins Bett steigt. Oder wenn das Mädchen David die blauen Flecken von der Arbeit im Auto zeigt. In diesen Momenten kommen sich Alltag und diskursiver Ton von „L’Amour“ in die Quere. Aber dann ist da wieder diese Kamera, die sich nie von Davids und Maries Seite bewegt und dem Paar Halt gewährt. Die beiden dürfen sich ausprobieren, die Kamera wird jede ihrer Bewegungen und Regungen auffangen. Und wenn Marie und David mal ganz bei sich sind, dehnt sie diesen Augenblick ins Unendliche aus: Die kalte Wintersonne und ein zugefrorener See, zwei ausgelassene Pünktchen am Horizont, die mit offensichtlicher Freude über das Eis schlittern und jede Bauchlandung in Kauf nehmen. ANKE LEWEKE

„L’Amour“, Regie: Philipp Gröning, mit Sabine Timoteo, Florian Stetter u. a., Deutschland 2000, 128 Min.

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