das wird: „Brahms konnte vom Komponieren sehr gut leben“
Wolfgang Sandberger, scheidender Leiter des Lübecker Brahms-Instituts, spricht über Brahms’globale Bedeutung
Interview Petra Schellen
taz: Herr Sandberger, worin liegt die globale Bedeutung von Johannes Brahms?
Wolfgang Sandberger: In meiner Vorlesung zum Abschied vom Lübecker Brahms-Institut orientiere ich mich an den Kategorien des Globalhistorikers Jürgen Osterhammel. Er differenziert zwischen Weltbiografie, dem Weltgehalt bestimmter musikalischer Werke und der Weltwirkung eines Komponisten sowie der Weltgeltung seines Werks.
taz: Wie gestaltet sich zum Beispiel seine Weltbiografie?
Sandberger: Brahms bewegt sich im Mittelfeld. Er ist weder Stubenhocker noch Global Player. Die zentrale Frage damals war: Hat er den Atlantik überquert? Nein, hat er nicht. Als zehnjähriges pianistisches Wunderkind hätte er das tun können. Ein Impressario hatte ihn in Hamburg gehört und wollte ihn in die USA mitnehmen. Gott sei dank hat sein Klavierlehrer das verhindert, denn da wäre Brahms als Wunderkind verheizt worden und hätte wohl keine Komponistenlaufbahn eingeschlagen. Er war auch nie in Paris, London, Moskau wie andere VirtuosInnen, etwa seine Freundin Clara Schumann und sein Kollege Josef Joachim. Brahms begann stattdessen früh eine reine Komponistenkarriere.
taz: Was damals selten war.
Sandberger: Ja, denn der Beruf des reinen Komponisten existierte eigentlich nicht. Man brauchte zusätzlich einen Brotberuf, als Kapellmeister zum Beispiel. Mozart konnte nicht vom Komponieren leben, Beethoven nur dank seiner Mäzene. Aber Brahms konnte mit seinen Verlegern so gute Konditionen aushandeln, dass er vom Komponieren sehr gut leben konnte.
taz: Und wie beurteilen Sie Brahms’ Weltgehalt?
Sandberger: Schlüsselwerk ist das Deutsche Requiem. Darin geht es um Trost für die Hinterbliebenen – ein Menschheitsthema. Auch seine Sinfonien sind im Sinne Theodor Adornos „Reden an die Menschheit“. Die 1. Sinfonie thematisiert zum Beispiel die Versöhnung von Religion und Natur. Brahms hat aber nicht, wie andere Komponisten des 19. Jahrhunderts, dem musikalischen Exotismus gehuldigt wie Camille Saint-Saëns mit der „Suite algérienne“ oder Giuseppe Verdi mit der Nil-Oper „Aida“. Brahms ist in der aktuellen Debatte um Kolonialismus und kulturelle Aneignung nicht angreifbar.
taz: Und wie steht es um seine Weltwirkung beziehungsweise die Rezeption?
Sandberger: Seine Werke wurden schon früh in den USA gespielt, wie Programmzettel zeigen. Für andere Länder ist das noch nicht so erforscht. Was ich aber sagen kann: In der Filmmusik wurde er weltweit rezipiert. Allein sein Wiegenlied „Guten Abend, gute Nacht“ erklingt nicht nur millionenfach aus Spieluhren in Kinderzimmern, sondern auch in etlichen Filmen.
taz: Welche Rolle spielt Brahms als „Filmmusiker“?
Abschiedsvorlesung Wolfgang Sandberger, „Aimez-vous Brahms?“, Fr. 1. 11., 12 Uhr, Musikhochschule Lübeck, Großer Saal
Sandberger: Eine große. Am bekanntesten ist die Françoise-Sagan-Verfilmung „Aimez-vous Brahms?“ von 1961. Aber auch von Musikern wie Yves Montand, Frank Sinatra und Santana gibt es Brahms-Adaptionen. Es gibt sogar einen Krater auf dem Mars namens Johannes Brahms. Und in „Star Trek“ behauptet der unsterbliche Flint, er sei früher Johannes Brahms gewesen. Auch solche Skurrilitäten belegen Brahms’internationale Popularität.
taz: Und welche Weltgeltung hat das Brahms-Institut, das Sie jetzt verlassen?
Sandberger: Es ist das einzige Institut zu Johannes Brahms überhaupt, basierend auf der weltweit größten Privatsammlung mit Brahms-Dokumenten, die Schleswig-Holstein 1991 vom Hamburger Sammlerpaar Hofmann erwarb. Einzigartig ist auch die Zusammenarbeit mit der hiesigen Musikhochschule in unserem Brahms-Festival. Zentrales Projekt der letzten Jahre war die Digitalisierung der Bestände: Wir haben 43.000 Digitalisate erstellt, die wir semantisch in einem Brahms-Portal verknüpfen. Es soll 2025 freigeschaltet werden.
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