das ding, das kommt: Immer schon da, aber jetzt erst richtig
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Hätten wir es vergessen? Kann es wirklich sein, dass ein Mikrofon in der taz nord noch nie erkannt worden war als Ding, das kommt? Das elektronische Archiv sagt: ja. Auch mit Trunkierung hinterm „o“, mit Schreibvarianten oder gängigen Tippfehlern: Die Trefferzahl bleibt gering. Und nie stand es im Mittelpunkt, trat nur als dienendes und übersehenes Zubehör auf.
Das ruft ins Bewusstsein, wie abhängig von Friedrich Kittler – auch zehn Jahre nach dessen Tod noch – diese Rubrik ist: als der allerbescheidenste Versuch einer an Dingen orientierten materialistischen Kulturkritik, und besonders an der Evolution technischer Geräte zur Produktion von Literatur, Kunst et cetera. Auch jener Prophet dieser Disziplin – im Spätwerk driftet er sacht ins Religionsgründerische ab, von wegen die Maschinen sind die Götter und so – lässt dem Schallwandler nur sehr wenig Aufmerksamkeit zukommen. Dort, wo Kittler das Mikro in „Grammophon, Film, Typewriter“ erwähnt, geht es nur um die Frage der grundsätzlichen Umkehrbarkeit seiner Leistung, also, dass es im Prinzip auch Lautsprecher sein könnte. Aber nie um den Prozess der Wandlung von Schallwelle ins Signal.
Dabei ist das die Bedingung dafür, dass es wiederum aufgezeichnet, versendet und neu ausgestrahlt werden kann. Die Prozesse des Registrierens, Speicherns und Beschallens, die Kittler wichtig bleiben, setzen es wie natürlich voraus. Der magische Zwischenraum, in dem sich diese Transsubtantiation ereignet, bleibt unerkundet. Das Mikrofon selbst ist also immer schon da, ewig, wie das Unbewusste und wie die Ideologie. Wer aber übers Unbewusste herrscht – der ist Gott.
Das macht die Veranstaltungsform des „Open Mic“ so brisant, und auch wenn es also theo-logisch betrachtet immer schon da ist, kommt das Mikrofon infolge von Corona jetzt erst richtig. Denn wo wäre eine Absage leichter zu verkraften? Der Aufwand ist klein, das Honorar fällt weg, als pandemische Requisiten reichen Tüten fürn Puschel und ein bisschen Infektionsspray – risikoärmer geht nicht.
Und empowernder: In seiner Reihe „Common Ground“, einer neuen Landnahme des öffentlichen Raums durch die Öffentlichkeit, reserviert das Theater Bremen nun, unterstützt vom Afrika Netzwerk Bremen seine Bühne auf dem Goetheplatz für alle, die den Mut haben, das Mikrofon zu ergreifen, ihre Stimme ins Übernatürliche zu transformieren und zu verkünden, was sie zu erzählen haben: „Ob selbstverfasste Gedichte, Anekdoten oder Musik“ heißt es im Aufruf, sich zu offenbaren – „It’s your choice“.Benno Schirrmeister
„Open Mic“: So, 27. 6., 12–15 Uhr, Bremen, Goetheplatz, mit musikalischen Live-Acts von Christian Bakotessa
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