das ding, das kommt: Und sie läuft und läuft und läuft
Ärgernisse zu Jahresbeginn? Da denken die einen ans (doch nicht komplett ausgefallene) Geböller. Den anderen kommen gute Vorsätze in den Sinn, also Joggen gehen oder Intervallfasten, denn auch als Quälereien oder Schikane lassen sie sich übersetzen, die „Vexations“: So betitelte um 1893 herum der Komponist Erik Satie eine merkwürdig wenig in jene Zeit gehörig wirkende Komposition: so abstrakt, so chromatisch. Oder gehört sie das sogar ganz besonders?
Denn ähnlich alt ist ja das Medienzeitalter: 1878 hatte Thomas Edison das Telefon patentieren lassen, 1886 der Hamburger Physiker Heinrich Hertz die elektromagnetischen Wellen entdeckt – wichtige Voraussetzung dafür, dass Heiligabend 1906 die erste Radiosendung ausgestrahlt werden konnte. Selbst wer die „Vexations“ nie gehört hat, kennt vielleicht ihren Clou: Nur eine Seite umfasst die Partitur, trotzdem ist das Stück auch als eines der längsten überhaupt bezeichnet worden. Denn genau 840-mal zu spielen sei es, so Saties Spielanweisung; passiert ist das erst 1963, auf Betreiben des Komponistenkollegen John Cage, der auch selbst mit am Klavier saß.
Damals dauert die Aufführung über 18 Stunden, je nach Tempo ist die Umsetzung auch in 14 zu schaffen. Beinahe unendlich lange kann Saties „Quälereien“ genießen, wer schnell war und eine der Endloskassetten erstand, die jetzt das Hamburger Label Gagarin Records herausgebracht hat. Darauf interpretiert sie der Pariser Komponist und Dirigent – und Träger eines Knallernamens – Wladimir Schall.
Die Endloskassette ihrerseits ist ein Kuriosum der Mediengeschichte: Dank einer „genial verwickelten Mechanik“ – so Labelchef Felix Kubin – muss, ach was: kann sie nicht umgedreht werden und nicht zurückgespult. Zuträglich ist das allemal dem „Zustand innerer Stille und Unbeweglichkeit“, den Satie den Spielenden ebenfalls auftrug – die Grenze aufzulösen zwischen Ausführen und Rezipieren: Das passt definitiv in die Zeit.
Alexander Diehl
https://gagarinrecords.bandcamp.com/releases
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