: „das blatt“ ist „bunt“
Es rauscht nicht nur, es stürmt im expandierenden Blätterwald der DDR. Nicht genug, daß selbst betagte Gazetten lesbar geworden sind (die DDR-Presse hat den Journalismus entdeckt): neue Zeitungen offerieren sich den LeserInnen; Zeitungen und Zeitschriften der BRD und Westberlins drängen auf den Markt der DDR. Wer Lust und die Zeit dazu hat, kann seinen Tag auf unterhaltsame und informative Weise mit dem Lesen von Presseerzeugnissen verbringen.Die Zeiten, wo sich der tägliche Mediengebrauch auf zehn Minuten ND-Lektüre und fünfzehn Minuten Tagesschau beschränkte, scheinen endgültig vorbei zu sein. Wie sagte doch ein amerikanischer Kollege, dem ich mein Leid über den Zusammenbruch meiner Zeitökonomie infolge Zeitungslesesucht geklagt hatte: Lies du nur Zeitung, das ist dein Beruf. Recht hat der Mann. Hoffentlich sieht mein Chef die Sache auch so.
Anzuzeigen ist eine Neugründung: eine von Helfried Schreiter, zugleich Chefredakteur, in Berlin/DDR herausgegebene „Unabhängige überregionale Wochenzeitung“. Ihr Name: schlicht-anspruchsvoll im Stile Allerneuester Sachlichkeit „das Blatt“ (Betonung wahrscheinlich auf der ersten Silbe). Nr. 1 ist mit dem 20. Februar 1990 datiert; Umfang: 32 Seiten, weshalb sich auch ein Inhaltsverzeichnis lohnen würde, im JUNGE WELT-Format; der Preis: M 2,70. Die Preisangabe in DM, ÖS und sfr verweist auf die Hoffnungen, die sich Herausgeber und Redaktion - „mit Europa im Blick“ (O-Ton „das blatt“) - hinsichtlich der Verbreitung ihrer Zeitung wenigstens im deutschsprachigen Raum machen. Höhe der Startauflage: 250.000.
„das blatt“ ist „bunt„; Rezensent ist geneigt, von einem politischen Magazin zu sprechen. Rubriken deuten sich an, die das künftige Gerüst des Periodikums abgeben könnten; sie reichen von der Prominenten-„meinung“, erstrecken sich über Interviews, Reportagen, Essays, Kommentare bis zur Kinderseite „blättchen“ und dem „tip“ fürs Kochen; auch die Enthüllung fehlt nicht („kräftig hingelangt“).
Die durchweg unter politischem Aspekt behandelten Themen, den Schwerpunkt bildet dabei, wie könnte es anders sein, Deutsch-Deutsches, sind breit gefächert: Um Wirtschaft geht es und um Technik (informatives Trabi-Dossier unter dem Titel „Abschied von einem Kumpel“) und selbstverständlich auch um Kultur - politische Kultur inclusive - und Kunst. Der kritische Biß, er gilt diesmal „Big Helga“, ist kräftig. Sie erhält „Die Ohrfeige der Woche“. Und selbst da, wo geblödelt wird, geschieht's mit Hintersinn.
Wichtig ist mir - im Hinblick auf den Versuch, „das Blatt“ in gebotener Kürze zu charakterisieren - vor allem folgendes. Die Perspektive „Deutschland, einig Vaterland“ hat vielerorts die Phantasie gelähmt und davon abweichendes Denken blockiert. Sie hat Wünsche und Hoffnungen kanalisiert, aber auch Ängste geweckt. Vernunft und Phantasie sind dabei größtenteils auf der Strecke geblieben. Mit anderen Worten: Linke Phantasie zieht sich gern zurück, wenn's um „Deutschland, einig Vaterland“ geht und - überläßt damit diese Perspektive der phantasielosen Rechten, die nur mit Spruchanleihen aus der Fußballszene aufwarten kann.
Anders „das blatt“. Bei ihm entzündet sich die Phantasie gerade am Prozeß der Vereinigung; und die Analyse seiner Chancen und Gefahren erscheint als Herausforderung der Vernunft („Die neue Angst. Der Einmarsch der Deutschmark. Ein Thriller“). Die dadurch aufgeworfenen Probleme werden kenntnisreich untersucht, von Leuten unterschiedlicher politischer Provenienz engagiert diskutiert und solcherart gedanklich aufbereitet, der „Urteilskraft der LeserInnen“ überantwortet. Da wird Vernunft mit Vergnügen geübt; der Eigensinn einer DDR-Position, und das heißt auch die Abwehr des „Anschlusses“, nicht nur behauptet beziehungsweise formelhaft eingefordert, sondern journalistisch lebendig praktiziert.
In Helfried Schreiters Beitrag „Die Fußnote“ hat Rezensent eine Überzeugung gefunden, die ihm nicht nur sympathisch ist, sondern die auch - mit aller Vorsicht - zur Kennzeichnung des politischen Profils des „blatts“ dienen könnte: „Wenn also das Kapital seinen Einzug in die DDR vollzieht, wäre die Stärkung der Gegenkräfte das Gebot der Stunde. Und die Gegenkräfte, das sind eben nicht totgeborene Gesetze und Verordnungen, sondern lebendige und starke Gewerkschaften im Bunde mit einer ebenso starken Sozialdemokratie“. Diesen „Gegenkräften“ zum Ausdruck und auf die Beine zu helfen, was die genaue Kenntnis der „Kräfte“ einschließt, zum Beispiel der Position Graf Lambsdorffs („Interview“), ist eine Aufgabe, der zu verschreiben sich lohnt.
Ein vielversprechender Anfang, der bereits erstaunlich souverän daherkommt, ist gemacht worden und hat Erwartungen geweckt. Wir wollen sehen, ob sie auch fürderhin eingelöst werden. Zu wünschen wär's schon; und der Bedarf nach einer Zeitung, die sich „als Teil der demokratischen Kontrolle von politischer und wirtschaftlicher Macht“ versteht, ist allemal vorhanden.
Nachtrag als Brückenschlag zwischen „taz“ und „blatt“: Wenn mich nicht alles täuscht, dürfte der Spruch der Woche, der die Titelseite der Nummer 1 ziert, mindestens Monika Maron und Freya Klier auf den Plan rufen und damit den Einstieg des „blatts“ in die derzeit zentrale Diskussion über die Wandlungen des Volks und das Selbstverständnis der Intellektuellen im politischen Umbruch der DDR sichern: „Wenn der Pöbel aller Sorte / Tanzet um die goldnen Kälber, / Halte fest: Du hast vom Leben / Doch am Ende nur dich selber“. Autor dieser Verse hat nachweislich niemals Honorar vom „Spiegel“ erhalten. Aber wird das reichen, ihn vor Intellektuellen-Schelte zu schützen?
Norbert Krenzlin
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