das wird: „Ein weiterer Schritt zur Entrechtung Geflüchteter“
Sigmar Walbrecht vom Flüchtlingsrat Niedersachsen über die Gefahren einer populistischen Migrationsrhetorik
Interview Sabrina Bhatti
taz: Sigmar Walbrecht, angesichts der aktuellen politischen Diskussionen über geschlossene Grenzen: Lohnt es sich überhaupt noch, über die Bezahlkarte zu sprechen?
Sigmar Walbrecht:Es scheint eine Marginalie zu sein –ist es aber nicht. Die Bezahlkarte ist ein Baustein im ganzen Sortiment von Entrechtungen, die Geflüchtete erfahren. Sie ist unter anderem eingeführt worden, weil nach schrecklichen Anschlägen in Deutschland mehr Härte gegen Geflüchtete gefordert wurde. Da wurden dann kurzerhand alle Geflüchteten in einen Topf geworfen und dafür verantwortlich gemacht. Und dann werden Maßnahmen durchgeführt, die vermeintlich Menschen davon abhalten sollen, in Deutschland und Europa Schutz zu suchen. Die Bezahlkarte ist eine symbolpolitische Maßnahme, hat aber faktisch für die Geflüchteten im Alltag eine einschränkende, drangsalierende Wirkung.
taz: Wie sehen Sie die Verschärfungen in der Migrations- und Asylpolitik?
Walbrecht:Die sind ganz fatal. Die Migrationspolitik ist das Feld, über das der ganze gesellschaftliche Konsens immer weiter nach rechts verschoben wird. Migration, insbesondere Fluchtmigration, wird dargestellt, wie Seehofer einst sagte, als: „die Mutter aller Probleme“ – das ist natürlich Blödsinn. Migration ist einfach ein Faktum. Für viele ist sie eine vernünftige Strategie, ihre Lebenssituation zu verbessern. Für Menschen, die vor Krisen und Kriegen fliehen müssen, gibt es keine andere Option. Und es ist eine unverantwortliche Erzählung, diese Menschen zu kriminalisieren und verantwortlich zu machen für diverse Missstände, für die die Parteien offensichtlich keine einfachen Lösungen finden.
Bundesweite Tagung zum Asylbewerberleistungsgesetz“: Sa, 15. 2, 10–18 Uhr, UJZ Korn, Kornstraße 28–30, Hannover
taz:Trotz allem – wie gewinnt man die Gesellschaft für solidarisches Handeln?
Walbrecht:Ich glaube, dass diese Erzählung von Migration als Bedrohung längst nicht bei allen Menschen verfängt. Viele erkennen, dass es eben Populismus ist. Die vielen Proteste von Hunderttausenden in den vergangenen Tagen in Deutschland haben gezeigt, dass es doch etliche Menschen gibt, die in dieser ganzen Rhetorik eine Gefahr für die Gesellschaft sehen. Deswegen bin ich auch nicht erstaunt, dass es einen ziemlich guten Zulauf gibt, um an Umtauschaktionen rund um die Bezahlkarte teilzunehmen. Das ist eine Möglichkeit, sich ganz konkret solidarisch zu zeigen. Für diejenigen, die noch gar nicht organisiert sind, ist das jetzt die Möglichkeit, sich in irgendeiner Form zu organisieren.
taz: Welche langfristigen Auswirkungen hat diese populistische Migrationsrhetorik auf die Integration von Geflüchteten und Migrant:innen in die Gesellschaft?
Walbrecht:Faktisch ist es ein weiterer Schritt, die Menschen auszugrenzen, indem sie weniger am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. Es ist ein Angriff auf das grundrechtlich garantierte Existenzminimum. Das ist ein ziemlich offensichtlicher unmittelbarer Effekt. Das Problem ist, dass es ein Schritt von vielen ist, der zur weiteren Entrechtung von Geflüchteten führt. Diese Entrechtung macht nicht bei Geflüchteten halt. Wir haben jetzt schon seit einiger Zeit die Diskussion um Bürgergeld und Sanktionen wie Arbeitszwang. Also Maßnahmen, die sich gegen geflüchtete Menschen richten, richten sich unter Umständen auch gegen andere Menschen, die Leistungen empfangen.
taz: Wie kann man dem entgegentreten?
Walbrecht:Man muss als Erstes diesen Mythos von Migration als Mutter aller Probleme entlarven. Dann müsste man grundsätzlich deutlich machen, dass wir eigentlich genug Wohlstand produzieren und bei gerechter Verteilung allen ein gutes Leben ermöglichen können. Es muss deutlich gemacht werden, welche Gefahr es gibt, wenn Grundgesetz und Völkerrecht ignoriert und sogar angegriffen werden. Das ist letztlich für die ganze Gesellschaft eine Gefahr. Das Fundament unseres Zusammenlebens wird damit in Frage gestellt.
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