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cannescannesIm Film von heute ist Sex eine sadomasochistische, manchmal auch sehr blutige Angelegenheit

Oralverkehr mit einem Vampir

No sex, please. Er bringt uns ins Gefängnis, stürzt uns in Hysterie und Einsamkeit, macht uns zu Vampiren und Verbrechern, ist schlecht, böse, sündig und gefährlich. Nach sechs Tagen Festival, in denen jede Form von Begehren prompt von theologisch-moralischen Überbauten sanktioniert oder in sadomasochistische Knebelbeziehungen überführt wird, tut ein kleiner Ausflug durch die Pornoabteilungen des Filmmarktes gut.

Da räkeln sich die Bikini-Starlets mal eben so zum Foto-Call auf der Terrasse des Noga Hilton, die Filmhändler tragen goldene Uhren zu weißen Anzügen über silbernen T-Shirts, und die Poster der einschlägigen Firmen kommen in unbelasteten Imperativen daher: „Show it!“, „Gimme' Conchita“, „Come, come, come II“.

Hundert Meter weiter in dem riesigen Zementklotz, der die Filmkunst beherbergt, liegen die Dinge komplizierter und bei Michael Haneke sowieso. In seiner Verfilmung von Elfriede Jelineks Roman „Die Klavierspielerin“ entwickelt Isabelle Huppert wahre Domina-Qualitäten. Als strenge, überhebliche Lehrerin am Wiener Konservatorium korrigiert sie ihre Schüler mit verbalen Peitschenschlägen, demütigt, verspottet und terrorisiert ihre Umgebung. Abends legt sie sich brav neben ihre Mutter (Annie Giradot) ins Buchenbett. In ihren ältlichen Kostümen, spießigen Schuhen und Wolljäckchen ist Huppert die Verkniffenheit selbst, zumal wenn sie mit unbeteiligtem Blick in Pornokinos und Peepshows marschiert oder den Teenies im Autokino heimlich beim Bumsen zusieht. Ihren Schüler und Verführer spielt Frankreichs erotischster Mittzwanziger Benoît Magimel, womit die Polungen perfekt sind: fehlgeleitete Libido gegen Leidenschaft, altjüngferliche Macht- und Kontrollspiele gegen die ungestüme Jugend.

Ganz mag sich Haneke, unverbesserlicher Moralist, nicht in die Abgründe von Jelineks merkwürdiger Zuchmeisterin begeben, und so kämpft Huppert letztlich auch gegen einen Regisseur, der ihre Figur immer wieder vorführt, ausstellt und beurteilt. Dafür gibt es unglaubliche Momente: Magimel und Huppert bei einer sadomasochistischen Kraftprobe auf dem Konservatoriumsklo, bei der aus ihrem Gesicht die pure Angst vor dem Kontrollverlust spricht. Oder Huppert, die sich von ihrem konsternierten Schüler einen Brief mit ihren ultraharten Unterwerfungsfantasien vorlesen lässt. Danach kramt sie unterm Bett ein Kästchen mit Ketten, Handschellen und Masken hervor, denen man in ihrer einsamen Armseligkeit einfach ansieht, dass sie nie zuvor benutzt wurden. Überhaupt Sex und Strafe: In „The man, who wasn't there“, dem neuen Film der Coen-Brüder, wandert Frances McDormand nach ihrem Ehebruch in die Todeszelle, und bei Claire Denis folgt auf Sex Verdammnis. Für sonderliche Formen von Erotik und Körperlichkeit hat sich die Französin, deren neuer Film „Trouble Every Day“ außer Konkurrenz im Wettbewerb läuft, schon immer interessiert.

In ihrem Vampirfilm „Trouble Every Day“ verwandelt Denis nun die Erbsünde in hochsymbolische Äpfel, an denen die Menschen vor dem Sex versonnen knabbern. Auf eher mysteriöse Weise wird die Blutgier hier mit Profitstreben und Globalisierung verschaltet, und zwischendrin gibt es die ekligsten Aussaugszenen der Filmgeschichte. Wenn die in ihren schwarzen Stiefeln großartig morbide Béatrice Dalle ihrem Liebhaber in die Kehle beißt, dauert der Todeskampf eine gurgelnde und spritzende Ewigkeit inklusive blood painting. Dann macht sich Vampir Vincent Gallo gierig im Schambereich eines schreienden Zimmermädchens zu schaffen, wobei mir bei diesem blutigen Todes-Cunnilingus zum ersten Mal im Kino schlecht wurde. Zwei Stunden später schob sich Isabelle Huppert in Hanekes Film dann noch ein Rasiermesser zwischen die Beine, und das reicht dann erst mal für einen Tag. KATJA NICODEMUS

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