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cannes cannesWie die Zeit verrinnt

An der Croisette rotieren bereits die Köpfe der Schauspieler, doch Wong Kar-Wais Eröffnungsfilm schwelgt im Trivialen

Von der Terrasse des Pressecafés schweift der Blick über den Teil des Festival-Palais, der den Photo-Call beherbergt. Es handelt sich um einen von einem weißen Plastiksegel überdeckten, von gepflegtem Rasen flankierten Bereich auf dem Flachdach des Filmmarktes. Bevor im Palais die Pressekonferenz zu einem Wettbewerbsfilm beginnt, haben die Fotografen dort die Gelegenheit, Regisseure und Schauspieler zu fotografieren. Sie tun dies immer unter Aufbietung all ihrer Stimmkraft, indem sie die Vornamen der Darsteller und Filmemacher rufen, damit diese ihre Gesichter in Richtung des jeweiligen Rufers drehen. Da alle Fotografen zur gleichen Zeit rufen, sind im Geschrei die einzelnen Namen kaum herauszuhören. Müssen sich bei so vielen Rufern die Köpfe der Stars nicht unentwegt und hysterisch im Kreis drehen? Hätte ich ein Fernglas dabei gehabt, hätte ich dies am Dienstagmittag überprüfen können, als Jude Law und Norah Jones posierten, die beiden Hauptdarsteller aus dem Eröffnungsfilm, Wong Kar-Wais „My Blueberry Nights“. Ohne Fernglas blieb nur die Ahnung: „War das wirklich Jude Law?“ – „Ich hab ihn ganz genau erkannt, als er sich umgedreht hat.“

Zuvor war „My Blueberry Nights“ in der Salle Debussy zu sehen. Der Enthusiasmus, den die Filme Wong Kar-Wais auszulösen pflegen, wich dabei leider dem Überdruss. Der Film entstand in den USA, neben Jones und Law spielen Rachel Weisz und Natalie Portman mit. Wie schon der Vorgängerfilm, „2046“, gefällt sich „My Blueberry Nights“ vor allem darin, zu schwelgen. Die Farben sind prächtig, luminös, das Licht lässt sich auf zahllose Brechungen und Spiegelungen ein, es fällt verführerisch ins Whiskyglas oder durch die zersplitterten Fenster eines Unfallwagens, so dass das Glas aussieht wie eine Schicht aus Diamanten. An einem anderen Wagen gleitet die Kamera entlang, als sei die Karosserie schwarzes, flüssiges Gold. Noch den Titel gebenden Blaubeerkuchen weiß sie so zu fotografieren, als sei er die erotischste Sache der Welt. Wong Kar-Wai variiert Motive und Sujets, die aus seinem Oeuvre vertraut sind: die vielen Formen scheiternder Liebe, den nostalgischen Blick auf eine Vergangenheit, die für immer versunken ist, die Lust am Glücksspiel, die Sucht. Nur dass es diesmal nicht zum melodramatischen Überschuss kommt, zum enigmatischen Zuviel, das „2046“ produzierte, sondern zu einer Aneinanderreihung trivialer Geschichten. Ein Mann trinkt, weil seine Frau ihn verlassen hat; eine Frau spielt, weil sie ein schwieriges Verhältnis zu ihrem Vater hat; die Protagonisten Elizabeth (Jones) und Jeremy (Law) bleiben eindimensional. Vor diesem Hintergrund ergibt die Opulenz des Films wenig Sinn. Sie ist weniger Verschwendung als Kunstgewerbe, weniger Exzess als Luxus.

Nüchternheit ist eben manchmal gar nicht schlecht – das lässt sich in David Finchers Wettbewerbsbeitrag „Zodiac“ beobachten. „Zodiac“ ist der erste Film, den Fincher seit „Panic Room“ (2002) gedreht hat; er geht zurück auf eine Mordserie, die sich von 1969 bis in die 80er-Jahre hinein in San Francisco und der Bay Area zutrug. Ein sich selbst Zodiac nennender Serienmörder war in all diesen Jahren aktiv, ohne dass die Ermittler ihn hätten stellen können. Bis heute ist der Fall nicht aufgelöst. Fincher nutzt diese Leerstelle, um die Genrevorgaben des Serienmörderfilms gegen sich selbst zu kehren. Denn allem Rätselraten, allem Fährtensuchen, allen Whodunit-Plotstrukturen und allem Suspense zum Trotz bleibt am Ende nichts übrig – außer einem grauhaarigen Kommissar und einem von dem Fall besessenen Journalisten, die beide ihr Leben verpasst haben. Wenn Wong Kar-Wai das Verstreichen der Zeit fast obsessiv zum Sujet seiner Filme macht – im Sinne einer gefräßigen Zeit, die das Vergangene unwiederbringlich auslöscht und gerade darin Nostalgie produziert –, dann hat Fincher etwas Ähnliches im Sinn, denn auch sein Film handelt im Wesentlichen davon, dass und wie Zeit verrinnt. Doch die Nostalgie weicht nüchtern gesetzten Zäsuren – oder einer luziden Abschweifung wie der, in der die Kamera von Harris Savides sich ein Hochhaus betrachtet. Zunächst zeichnet sich das Gebäude nur als Gerüst vor dem Himmel ab; im Zeitraffer nimmt es allmählich Gestalt an, Stockwerk für Stockwerk, bis auf dem Dach, in luftiger Höhe, eine Glaskuppel errichtet ist und das Licht darin entzündet wird. Und so sind in zwei Minuten zwei Jahre verstrichen. CRISTINA NORD

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